Großmutter Anna, Maria und das Kind, Hildesheim, Dom (Foto: hinsehen.net E.B.)

Meine Familie und mein Ich – Wer lebt mein Leben?

Die katholische Kirche hat ein Gespür für die wichtigen Lebensthemen des Menschen. Sie ist familienorientiert und feiert das noch mit dem Familiensonntag nach Weihnachten. Mit Hochzeit und Taufe hat sie zwei Familiensakramente. Sie liegt richtig, denn die Therapierichtung „Systemik“ stellt die Bedeutung der Familie und Gemeinschaft stark heraus. Wir lassen unsere Familie emotional nie hinter uns, sind wir doch durch sie in diese Welt gekommen.

Familie heißt nicht nur Harmonie und Glück. In einer Selbsterfahrungseinheit ihrer systemischen Therapie-Ausbildung erfährt unsere Autorin, welche Aufträge und Emotionen aus ihrer Familiengeschichte in ihr wirken. Der Moment meiner systemischen Familienaufstellung:

„Es ist nicht die Wahrheit, aber es kratzt an der Realität“.

Es herrscht totale Konzentration. Das Entkeimungsgerät surrt meditativ im Hintergrund. Die Menschen um mich herum fühlen sich in ihre Rollen ein. In mir tobt eine Schlacht und ich denke: „Liebe ist Krieg“, aus einem Liedtext von Rammstein.
Anderthalb Stunden habe ich meinen Kolleg*innen das Drehbuch meines Lebens erzählt, habe geweint und gelacht. Es geht in die Tiefe, in den Abgrund. Bis auf den Boden. Sie können sich eine Vorstellung über die Hauptdarsteller*innen machen. Sie sehen meinen Stammbaum. Er ist lückenhaft, entwurzelt und macht mich traurig. Ich erzähle von meiner Familie, wer die Eltern meiner Eltern waren, wie sie gelebt, was sie gedacht und vielleicht was sie geträumt haben.Meine Ausbildung zur systemischen Therapeutin hat es in sich. Ich frage die anderen: „Verdammt, Leute, warum machen wir das hier eigentlich?“ Das heitert mich auf und ich lache. 

Meine Mutter – eine Weltmacht, die ich respektiere

Ich befinde mich in meiner Selbsterfahrungseinheit. Zurst kommt das Genogramm und danach die Familienaufstellung. Eine erfahrene systemische Therapeutin führt mich durch meine Familiengeschichte. Sie sitzt vor mir – mit Sicherheitsabstand und noch viel weiter – doch es fühlt sich an, als wäre sie mir ganz nah. Mit ihren Fragen bringt sie mich zum Nachdenken, bringt mich auf die Spur. Plötzlich die Erkenntnis: Meine Mutter. Mein Endgegner. Ihr habe ich so viel zu verdanken: Gutes. Schlechtes.
Sie hat mich durch viele Lebensphasen begleitet und doch scheint sie mir im Finale gegenüberzustehen. Eine Weltmacht, die ich respektiere, aber ich ziehe mit ihr in eine emotionale Schlacht, um mich zu verteidigen. Meine Ansprüche durchzubringen, mich unabhängig zu erklären, meine Lebenskonzepte ohne Bewertung leben zu dürfen.In der Aufstellung kann ich Fragen stellen, meine Freunde antworten mir aus ihrer Rolle heraus. Einige sind voll drin, andere bewahren einen kühlen Kopf. Ich laufe auf Hochtouren. Es ist nicht die Wahrheit, aber es kratzt an der Realität. Zum Glück darf ich so sein, wie ich bin und gerade das fühlen, was da ist. Ich trenne meine Rolle in meinem Familiensystem von den mir mitgegebenen Aufträgen, und ihren „transgenerationalen“ Emotionen. Ich werde Ich.

Aus dem Netz des Systems befreien

Und du Mutter, bleibe du; mit deiner Familiengeschichte, mit deinen Emotionen und mit deinen Überzeugungen. Erziehung transportiert bewusst und unbewusst ganze Lebensgeschichten.
Mir tut es gut, mich aus dem Netz meines Systems zu befreien und zu verstehen, was Meins ist und was nicht.Ich bin erledigt. Mein Kopf glüht, meine Augen sind geschwollen. Ich fühle mich, als hätte ich den Endgegner in mir besänftigt.
Es war keine Schlacht, denn ich bin nicht mehr verwundet.

© Claudia Berg


Kategorie: Verstehen hinsehen.net

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang