Br.Klaus Kapelle bei Mechernich, Geheimnis der Religion, Foto hinsehen.net

Islamismus - das Versagen der Sozialwissenschaften

Der Islam fordert die westlichen Gesellschaften heraus. Diese haben mit ihren Sozialwissenschaften Instrumente entwickelt, um ihr Gesellschaftsmodell zu entwickeln. Sie können die individuelle Psyche wie gesellschaftliche Dynamiken und Strukturen verstehen und sind sogar für die christlichen Kirchen tätig. In Bezug auf den Islam strahlen sie jedoch Ratlosigkeit aus. Sie bieten zumindest keine Alternative zum Ausbau der polizeilichen Maßnahmen. Es gibt mindestens einen Grund für das Unvermögen: Sie erfassen das Religiöse der Religion und damit deren Dynamik nicht. Dadurch bauen damit die Potentiale der Gegnerschaft unter überzeugten Muslimen mit auf.

Die Soziologie hat einmal den Anspruch erhoben, den Menschen zu verstehen und mit ihren Erkenntnissen eine neue Gesellschaft zu konstruieren. Die Generation der Achtundsechziger war begeistert. Hilft die Soziologie das Phänomen Religion besser zu verstehen? Am Beispiel des Islam erweist sich ihr Erklärungsvermögen als völlig ungenügend.

Religion einmal verfassungskompatibel, einmal nicht

In Westeuropa verändern sich die Erscheinungsweisen von Religion radikal. Dem rapiden Schwund religiöser Praxis steht eine aggressive Variante der Religion gegenüber. Von den Philippinen über Indonesien, Pakistan, die Zentralasiatischen Staaten, Persien, den Kaukasus bis nach Paris und Barcelona werden die Gesellschaften von religiös motivierten Muslimen bekämpft, insbesondere der liberale Verfassungsstaat. Zwar sind die westlichen Staaten industriell, wirtschaftlich wie im Umweltschutz weiter führend. Dagegen zeigt ihr Gesellschaftsmodell immer weniger Überzeugungskraft. Europa konnte seine Staatsidee nicht in den Ländern der Arabellion implementieren. Jetzt ist es Ziel der Flüchtlingsströme und handelt genauso verwirrt, ohne diese Menschen wirklich vom westlichen Lebensmodell überzeugen zu können. Die Reaktion der westlichen Gesellschaften ist erstaunlich rückschrittlich: Rückkehr zum Polizei- und Überwachungsstaat. Ihr Hauptinstrument für die interne Steuerung, die Sozialwissenschaften, die im 20. Jahrhundert ähnlich entwickelt wurden wie die Naturwissenschaften, zeigt sich erlahmt. Es gibt keine geistige Auseinandersetzung der Sozialwissenschaften mit der religiöse motivierten Ablehnung des westlichen Lebensmodells. Die Religionssoziologie überlässt es der Polizei, die Angreifer zu bändigen. Was unterscheidet westliche Demokratien noch von autoritären Regimen? Allenfalls die Psychologie kann erklären, warum gerade junge Männer von Religionsführern überzeugt werden können, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Keine Strategie, den Verfassungsstaat für Muslime kompatibel zu machen

Offensichtlich sind religiös grundierte gesellschaftliche Bewegungen von der Soziologie nicht richtig erfasst worden, um vonseiten der Wissenschaft Strategien zu entwickeln, mit diesen eine Einigung über die Regierungsform zu erzielen. Weltweit viel erfolgreicher sind die muslimischen Bewegungen, die sich vom saudiarabischen Wahhabismus inspirieren lassen, der die überzeugten Salafisten als weltweite Bewegung geschaffen hat. Da steht nicht nur das Geld dahinter, sondern die vermittelte Überzeugung über die Zukunftsfähigkeit dieses Islam. Faktisch gibt es keine Strategie, wie Frankreich mit seinen muslimischen Stadtvierteln zurechtkommt, wie man die Moscheen zu Orten macht, die die Verfassung mit tragen. Das kann bei den christlichen Gemeinden voraus gesetzt werden. Obwohl das Christentum seit 200 Jahren einer scharfen Kritik unterworfen wird und sogar dessen Grundthese, dass es überhaupt einen anbetungswürdigen Gott gibt, bestritten wird, sind die christlichen Kirchen im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, in der Armenfürsorge wichtige Stützen des Sozialstaates. Dagegen haben die Moscheegemeinden noch nicht einmal bei dem Ansturm der Flüchtlinge im Jahr 2015 entscheidend Hand angelegt. Niemand scheint es erwartet zu haben, niemand hat sie gefordert. Ihre Mitglieder nutzen das Gesundheitssystem und nehmen Sozialhilfen in Anspruch. Aber anders als die christlichen Körperschaften übernehmen die Moscheen keine Mitverantwortung für die personelle Ausstattung dieser Systeme. Das müssten die Sozialwissenschaften doch erklären können, wo es doch die christliche Religion ist, die lange vor den Staaten Krankenhäuser aufgebaut, Personalverbände für die Kranken- und Armenfürsorge, nämlich Orden und Diakonissenverbände, gebildet und die Armenfürsorge organisiert hat. Versteht die Religionssoziologie etwa die Religion nicht? Konstantin und weitere römische Kaiser waren da bessere Soziologen, ebenso die fränkischen Herrscher Chlodwig, Pippin und seine Nachfolger.

Religion - nur Funktion der Gesellschaft

Warum ist die westliche Gesellschaft so schwach, Muslime so zu integrieren, dass sie dieses Gesellschaftssystem nicht ablehnen, sondern es überzeugt mit tragen? Der Islam ist im Vergleich zu den Religionen anderer Immigranten diejenige, die sich gegen die westliche Idee von Gesellschaft und Politik stellt. Die Muslime berufen sich nicht auf ihre Kultur, auf fehlenden Schutz durch staatliche Organe, noch dass ihnen der Rechtsweg verschlossen wäre, sondern auf ihre Religion. Die Juden könnten wegen antisemitischen Ausschreitungen den Verfassungsstaat bekämpfen. Hindus und Buddhisten fallen auch nicht als Gegner der westlichen Staatsformen auf. Religion ist bei Muslimen offensichtlich ein entscheidender Faktor. Warum haben die Sozialwissenschaften keine Strategien entwickelt, die Ablehnung, ja sogar den Hass auf die westliche Zivilisation und insbesondere auf die großen Freiheitsgrade, die diese Zivilisation dem einzelnen zugesteht, zu überwinden. Sie können das nicht, denn sie verstehen Religion nicht aus sich heraus, sondern bloß als Funktion der Gesellschaft. Die Grundthese besagt: So wie die Gesellschaft strukturiert ist, so auch die religiöse Welt. Die Gesellschaft spiegelt sich im religiösen Götterhimmel.
Es sei nur auf ein führendes Werk des Religionssoziologen Robert Bellah, „Religion in Human Evolution“ verweisen. Dort wird die Identifikation des Königs mit einer Gottheit im frühen Ägypten, in China oder im Zweistromland mit der beginnenden Staatlichkeit erklärt. Können in Stammeskulturen noch alle Mitglieder an den großen Festen teilnehmen, ist das bei größeren Zahlen nicht mehr möglich. Der Kult, so die analyse, konzentriert sich auf eine Person, die die Beziehung zur Gottheit und damit Segen für das Land garantiert. Mit der Herausbildung größerer Einheiten organisiert sich dann auch der Götterhimmel und erhält eine oberste Gottheit.
Das wäre eine Erklärung, die für eine vergangene, eine tote Religion plausibel klingt. Wendet man sie aber auf die heutige Situation an, wird sie schnell brüchig. Wenn der Götterhimmel sozusagen als Spiegel der irdischen Herrschaftsverhältnisse zu sehen ist, dann müsste die westliche Gesellschaft die religiösen Vorstellungen der in dieser Kultur lebenden Muslime verändert haben. Man kann aber genau das Gegenteil feststellen. Der Islam ist kein „Funktionsträger der westlichen Idee von Zivilisation, sondern zwingt die Staaten zu Reaktionen auf den Anspruch der Religion. 

Die Gesellschaft ist nicht die erste formende Kraft, sondern in vielen Fällen die Religion

Wenn Religion Funktion der Gesellschaft wäre, dann würde die westliche Gesellschaftsordnung den Islam neu formen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Islam zeigt eine außerordentliche Kraft, sich gegenüber der westlichen Zivilisation immer deutlicher abzugrenzen. Die Zunahme der Kopftuchträgerinnen ist nur ein Signal. Würde die Religion ihre gestaltende Kraft nur aus den gesellschaftlichen Strukturen gewinnen, dann müsste das auch an der christlichen Religion aufzuweisen sein. Aber warum haben sie dann lange vor dem Staat soziale Initiativen ergriffen. Jedoch seit Marx die Religion so erklärt hat, hinterfragen die Sozialwissenschaften nicht ihr Interpretationsmodell. Sie geben der Religion nur so viel Kraft, wie sie für den Ausgleich sozialer Spannungen braucht. Dass Religion aber soziale Spannungen erzeugt, das traut man ihr dann nicht mehr zu und braucht es vom westlichen Christentum auch nicht zu erwarten.

Die Sozialwissenschaften lenken Energien in den Salafismus

Für die westlichen Gesellschaften sind nicht mehr die religiösen Erzählungen maßgebend, mit denen das Individuum seinen Platz in der Gesellschaft findet. Vielmehr wird das Individuum als Bürger definiert, erhält ein Steuernummer und eine Karte seiner Krankenkasse. Es wird über staatliche Institutionen wie Kindergarten, Schule und verschiedene Ausbildungssysteme zu einem Mitglied der Gesellschaft sozialisiert. Die Muslime reagieren darauf distanziert und in Teilen ablehnend. Von dem herrschenden Gesellschaftsverständnis, das die Sozialwissenschaften definieren, werden sie als vormodern eingestuft. Aber werden sie das Fremdbild übernehmen, wenn sie den Islam weltweit in einem neuen religiösen Aufbruch erleben?
Eines kann man mit den von den Sozialwissenschaften entwickelten Beobachtungsinstrumentarien  erklären: Wenn sich eine gesellschaftliche Gruppe, die sich im Aufwind spürt, Ablehnung erfährt, führt das nicht zu einem Ausgleich, sondern zu einer Intensivierung der gegensätzlichen Kräfte. Wenn die Muslime sich in ihrer Religiosität von der herrschenden Gesellschaftsdoktrin abgewertet fühlen, werden sie nur mit Resignation und Unterwerfung reagieren, wenn sie ihre Position als schwach empfinden. So sind ja viele Religionen nach der Unterwerfung durch ihre Gegner untergegangen. Das gilt aber schon nicht für die jüdische Religion.
Es dürfte wohl so sein, dass der Islam grade aus der erfahrenen Ablehnung weitere Energien schöpft, sich gegen das westliche Modell abzusetzen und es sogar zu bekämpfen. Nicht nur die Muslime rebellieren sie gegen einen Staat, der ihre Religiosität entkräften will. Wie anders sind die Konfessionskriege zu verstehen. Die neuen religiösen Bewegungen fühlten sich im geschichtlichen Aufwind, die alte Religion, also der lateinische Katholizismus hatte genug Energien für eine Reform. Immerhin hielten beide Seiten 30 Jahre einen verlustreichen Krieg durch. Damit haben sie allerdings die Glaubwürdigkeit ihrer Religion zerstört, was die Muslime in ihrem seit 36 Jahren andauernden Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten auch tun.

In einem nächsten Beitrag wird aufgezeigt, dass die mangelnde Bereitschaft, den westlichen Verfassungsstaat zu unterstützen, in der aktuellen Theologie des Islam begründet ist. Wie die neuen religiösen Bewegungen sozialwissenschaftlich überhaupt erfasst werden können, bleibt eine Frage. Die von den Kirchen in Auftrag gegebenen sozialwissenschaftlichen Studien und Umfragen haben den Rückgang ihrer Anhängerschaften nicht gebremst. Wohl deshalb, weil die Kirchen den Sozialwissenschaften mehr zutrauen als ihrer Theologie.  

Link
Robert N. Bellah Religion in Human Evolution, Harvard Press, 2011, 784 S.


Kategorie: Verstehen

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