Entscheidungne brauchen Flughöhe; Foto: hinsehen.net E.B.

Freiheit braucht eine Philosophie – ein Bild von der Welt

Nach Corona soll es irgendwie anders werden – oder machen wir so weiter wie vorher? Wenn etwas Neues kommen soll, braucht es dafür eine Vorstellung. Wir könnten in Frieden mit der Natur leben. Das hinge nur von uns ab. Wir haben die Freiheit. Aber unsere Freiheit braucht ein Bild von der Welt, wie sie sein sollte.

Anders als unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, können wir nicht einfach unser Leben leben, sondern müssen entscheiden, was wir mit diesem Leben wollen. Wer erklärt uns aber die Welt und gibt uns einen Platz, den wir mit unseren Begabungen und Energien gestalten? Das ist der Ursprung der Philosophie. Da es viele Philosophien gibt, müssen wir "selber sehen". Philosophie soll uns die Welt erklären. Aber die Welt ist im letzten nicht erklärbar. Deshalb sind alle unsere Denkgebäude nur Modelle. Das liegt an der Freiheit. Sie ist nie fertig und braucht daher immer wieder eine Erweiterung. Deshalb ist ein Kriterium für die Konstruktion meines Weltbildes, ob die jeweilige Philosophie meine Freiheit freisetzt. Da fällt der Marxismus schon mal aus. Aber was mache ich mit den restlichen 1.000 Denkgebäuden:

Jede Philosophie bleibt vorläufig

Jeder Denker baut seine Philosophie, um damit seine Intuition von der Welt verständlich zu machen. Aber die Welt ändert sich, unser Verständnis von der Welt bleibt nicht stehen und Gott ist auch nicht die in sich abgeschlossene Monade, der teilnahmslos von einem erhöhten Standpunkt aus das Treiben auf der Welt beachtet. Im 18. Jahrhundert hat man ihn so gesehen. Er hat nach der Vorstellung des Deismus wie ein Ingenieur den Kosmos konstruiert und in Gang gesetzt, so dass er ohne sein Einwirken alleine läuft. Nach den Kriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts können wir uns Gott nicht mehr als den freundlichen alten Herren vorstellen. Und die Materie ist auch nicht mehr die in sich ruhende Basis unserer Existenz. Sie ist nicht immer schon da gewesen. Da sie wohl mehr Energie als stabile Masse ist und sich daher, so wie unser Körper, im Durchgang durch die Zeit verbraucht. Diese Welt, die inzwischen so intensiv erforscht ist, entzieht sich einer letzten Durchschaubarkeit und noch mehr ihr Urgrund. Auch der Mensch bleibt trotz der intensiven Forschungsarbeit von Tausenden Psychologen, Soziologen, Gesellschaftswissenschaftlern das nicht durchschaubare Wesen. Das ist die sehr vage Ausgangssituation, von der her wir unser Lebensschiff bauen sollen, um damit unsere Lebensfahrt zu bestehen. Jede Vorstellung von der Welt, jede Philosophie ist nicht mehr als ein Schiff, das mehr oder weniger gut gebaut ist, um in den Stürmen nicht unterzugehen. 

Wir brauchen für mehrere Jahre ein brauchbares Bild von der Welt

Obwohl wir die letzten Urgründe nicht erfassen können, bleibt das unsere Welt, in der sich unsere Existenz abspielt. Weil wir selbst über unser Leben, wie wir es leben, entscheiden, brauchen wir für diese Weichenstellungen eine Vorstellung, wo wir hinwollen. Denn wir können nicht handeln, ohne in uns eine Vorstellung von den Gegebenheiten zu entwickeln, in denen wir unsere Entscheidungen treffen. Letztlich geht es darum, wer ich sein will. Denn das bestimme ich im Letzten. Die Entscheidung für mein Leben nimmt mir niemand ab, von allen am entschiedensten Gott nicht. Denn er will meine Freiheit, radikaler als Eltern, Lehrer, Politiker und selbst Philosophen und Theologen und auch nicht die Naturwissenschaften, auch nicht die Hirnforschung, die ständig Neues über den Menschen herausfindet. 

Unser Ich begleitet uns

Die Hirnforschung kennt jede Ecke dieses Organs, kann aber nicht sagen, wie das eigenartige Wesen, das immer mitspielt, das Ich, welches denkt, fühlt, zornig ist, das gekränkt und enttäuscht werden kann, mit den Milliarden Neuronen zurechtkommt. Besteht unser Leben nicht letztlich darin, mit den Unwägbarkeiten fertig zu werden, mit der Freiheit der anderen und dann mit dem Risiko, das ich selbst für mich und die anderen bin? Wieso können sich andere auf mich verlassen? Sollen wir uns etwa Gott so vorstellen, dass er sich selbst bis auf den Grund durchschaut? Warum entlässt er den Menschen in eine Geschichte, deren Ausgang voller Risiken ist? 

Unser Hirn arbeitet vorausschauend 

Auf die vielen Unwägbarkeiten gehen wir nicht nur abwartend, sondern vorausschauend zu: wir machen uns aktiv ein Bild von dem, was kommt und haben eine Vorstellung von der Welt und dem Platz des Menschen in ihr, d.h. jeder trägt einen Gesamtentwurf mit sich, eben eine Philosophie. So wie der Mensch Jäger, Bauer, Handwerker sein muss, um sein Leben hinzubekommen, so braucht er eine Vorstellung, wie die Welt gebaut ist, wie er einen Platz findet, wie er mit seiner Begrenztheit fertig werden kann und wer er eigentlich selber sein will.

Unser Hirn entwickelt Landkarten 

Die Hirnforschung versteht inzwischen unser Organ nicht mehr als bloß passives Empfangsteil. Das Gehirn ist aktiv nach vorne ausgerichtet. Denn wir brauchen eine Vorstellung, z.B. von unserem Reiseziel und wie wir dorthin gelangen. Dieses Reiseziel können wir uns vorstellen, weil wir es in die größere Landkarte, in die Vorstellung von dem Kontinent, seinen Gebirgen und Flüssen mit dem ihn umgebenden Meer, einbetten. So ein inneres Bild haben wir auch von der Gesellschaft, in der sich unser Leben ausbuchstabieren lässt. Die noch größere Karte umfasst unsere Herkunft, dass wir überhaupt auf der Welt sind. Erst wenn ich diese umfassende Karte in mir ausgebildet habe, kommt mein Ich voll ins Spiel. Ich stehe ja allem gegenüber, dem ganzen Weltall, der Geschichte und auch dem, woher das alles kommt, was mit dem Urknall angefangen hat. Ich bin wie alles andere um mich herum entstanden, bin aber davon nicht eingegrenzt. Denn ich kann, anders als die Tiere, mit meiner Vorstellung vor meinen und den Anfang des Weltalls zurückgehen. 

Meine Freiheit braucht den umfassenden Überblick

Meiner Freiheit werde ich mir bewusst, indem ich nicht mehr einfach so lebe, wie es sich aus den Umständen ergibt. Das scheint der Lebensinhalt der Schimpansen zu sein, denen wir genetisch zu über 90% gleich sind. Auch für uns gilt, dass das Leben, das in eine materielle Welt und der darin existierenden Kultur und Sprache eingebettet ist, uns zu einem großen Teil, vielleicht zu 90% "lebt".  Das ist aber nicht alles, denn darin erwache ich zu dem Bewusstsein, dass zumindest die restlichen 10% mir mit meiner Freiheit gehören. Obwohl mein Körper, die Natur, die Gesellschaft um mich herum und die Lebensenergie in meinem Körper mein Leben tragen, soll es mein Leben werden. Diesen Impuls spüre ich, wenn ich mir meiner Freiheit bewusst geworden bin. Es waren zuerst Ahnungen, die mich in einer umfassenden Einsicht wie ein Blitz getroffen haben, dass ich nicht nur einfach weiterleben, sondern mein Leben selbst in die Hand nehmen soll. Damit stoße ich in einen noch größeren Bereich vor, für den es allenfalls die Umrisse einer Landkarte gibt. Für die Reise durch mein Leben ist kein Navy konstruiert. Die Landkarte entsteht erst mit meinen Entscheidungen. Weil ich schon als Kind ahne, dass mein Leben von mir abhängt, will ich Geschichten hören, die mir zeigen, wie andere sich ihre Landkarte gebaut haben, indem sie in den Bedingungen, die sie vorfanden, ihren Weg gefunden haben.  Mein Leben wird auch eine Geschichte und ich bin der Drehbuchautor, der die Geschichte nicht nur erfindet, sondern auch gleich verfilmt. Wie ein Filmteam, das jeden Tag Neues inszeniert, einen Drehbuchautor braucht, so auch ich, der mich durch das Unbekannte führt, das vor mir liegt. Dieser Drehbuchautor ist niemand anderes als ich selbst. Denn ich entscheide, wie mein Leben laufen soll, wo ich mich einfügen und wo ich neue Wege erkunden will. 

Die Freiheit lässt Bisheriges hinter sich 

Mit der Wahrnehmung meiner Freiheit bin ich in die volle Verantwortung für mein Drehbuch gestellt. Ich kann nicht mehr sagen, dass ich mein Leben dem Fluss der Zeit überlasse, weil andere sowieso über mich bestimmen. Auch wenn ich in Nordkorea lebe oder in einem total restriktiven Familiensystem, entscheide ich zwar nicht über die Bedingungen, jedoch darüber, wie ich in dieser Welt leben will. In dieser Freiheit steckt eine Kraft, der keine Diktatur standhält. An der DDR konnte man über Jahrzehnte beobachten, wie Unterdrückungsmechanismen verschleißen. Das ist einem Auto vergleichbar, das 200.000 km gefahren wurde. Es wird vom Rost zerfressen. Ähnlich verschleißen auch die Weltbilder. Das Christentum in Deutschland macht gerade eine solche Phase durch, während es in Afrika und Asien inspiriert und damit auf die Menschen anziehend ist. Was dem Christentum gerade widerfährt, kann auch mir passieren. Ich stelle z.B. mit 40 Jahren oder mit dem Ausstieg aus dem Beruf fest, dass mir meine innere Landkarte für die nächsten Jahre nicht mehr die erwünschte Orientierung gibt. Dann genügt ein Ölwechsel nicht mehr. Die Karte für die nächsten Jahre kann an das Bisherige anschließen, sie kann mich auch in ganz neue Gegenden führen. Das ist dann zu erwarten, wenn ich nicht eine bessere Straßenkarte anlege, sondern mir z.B. eine Wanderkarte besorge, weil ich mich ökologisch umstellen, nicht mehr von Blech abgeschirmt durch die Landschaft fahren will. Mir wird mit der neuen Landkarte deutlich, wie leblos unsere Ackerflächen geworden sind und dass ich aus dem Auto das Heranwachsen von Fröschen, den Flug der Bienen, das Rascheln einer Natter nicht mitbekommen könnte.

Jedes Bild von der Welt ist vorläufig

Auch wenn ich nicht an das herankomme, "was die Welt im Innersten zusammenhält", brauche ich eine Vorstellung vom Ganzen, um mich selbst zu verstehen, was meine Möglichkeiten sind. Weil ich mein Leben leben muss, will ich wissen, für was dieses Leben sich lohnen soll. In der Freiheit selbst ist also die Dynamik, sich ein Bild von der Welt zu verschaffen. Das schlägt sich in Entscheidungen nieder, so für eine Ausbildung oder für Menschen, mit denen ich nach Verlassen des Elternhauses wie leben will. Auch wenn ich aus dem Berufsleben heraustrete, begleitet mich meine Freiheit jeden Tag weiter und ich muss das Drehbuch meines Lebens fortschreiben. Wenn sich aber alles ändert und kein Philosoph mir die endgültige Landkarte zeichnen kann, braucht meine Freiheit einige Kriterien, um die eigene Philosophie richtig zu bauen.

Werte bilden die Spanten meines Lebensschiffes

In der ständigen Fortschreibung meines Drehbuches braucht es so etwas wie einen Kompass und ein paar Fixsterne, die mich auf Kurs halten. Das sind die Werte, um die es mir geht. Sie bestimmen, in welche Vorhaben meine Lebensenergien fließen und wen ich mir als Partner für die Reise durch die Zeit auswähle. Das können Erfolg, Kompetenz, Anerkennung, wie auch konkrete Handlungsfelder wie die Gesundheit, das Lernen, die politische Organisation, der Einsatz für Benachteiligte, die Religion, die Musik, die Medien sein. Wenn ich hier entschieden bin, setzt das in mir Energien frei. Meist wird mir erst im Rückblick deutlich, welche Wertvorstellung ich meiner Entscheidung zugrunde gelegt habe. Ich sollte wissen, bevor ich Verantwortung für eine Partnerschaft, für Kinder, für Mitarbeiter, für Kranke, Schüler, für Sportler übernehme, welche Werte diese an mir ablesen sollen. Denn wenn sie auf mich reagieren, dann auf die Werte, die ich verfolge. Denn die Werte machen nicht nur mein Lebensschiff seetauglich, sie bestimmen auch, wie ich mit anderenzusammenlebe.

 

Freiheit verwirklichtsich innerhalb des jeweiligen Zeitgeistes. Zur heutigen Gemeingelage hier der Beitrag: Zur Situation der Freiheit

 

 


Kategorie: Verstehen

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