Thomas Holtbernd

Ich bin stark von der Phänomenologie beeinflusst, ich will auf die Phänomene schauen und näher hinsehen. Alles, was uns im Alltag begegnet, ist es wert, näher betrachtet zu werden. Ich will sie, die Dinge, unsere Ausdrucks- und Lebensformen so beschreiben, wie sie sind und uns erscheinen, ohne dass erst große Theorien bemüht werden müssen. Das kann jeder und jede. Die einzige Bedingung ist das Bemühen um die Zurückhaltung von Vorannahmen und Wünschen, durch die in die Dinge etwas hineininterpretiert wird. Mir ist mit dem intensiveren Hinsehen spürbar geworden, dass die Dinge, Situationen, Aktionen und Menschen auf mich zurückwirken. Es gibt keine Forschung, die nicht durch das Forschen zurückwirkt und eine wechselseitige Beeinflussung auslöst. Ich bin ja auch immer mit meinem Körper bei dem, was ich erkenne. Ich spüre, was ich erkenne und das führt zu einem interaktiven Prozess, der mich verändert. Diese Veränderung kann mir Angst machen. Ein genaues Hinsehen ist daher auch ein Risiko, was die meisten Wissenschaftler nicht mitbedenken wollen, das passt nicht in ihr Weltbild. Ich sehe nicht nur, sondern rieche, schmecke anders und höre auch die leisen Töne. Ich atme und manchmal erfasst mich ein Entzücken. Die Dinge, die Pflanzen, die Lebewesen und Menschen führen mich an eine Grenze. Es ist wie wenn ich an das Ufer eines Flusses gelange, vom anderen Ufer kommt mir etwas entgegen, als würde alles, was ich habe, auf mich wirken, aus einem größeren Raum herkommen. Alles ist mit allem verbunden, ich bin mit darin eingewoben. Es ist ein ständiges Üben, nicht die Welt und nicht den anderen so zu sehen, wie ich es, wie ich ihn haben will, sondern jedes Ding, jeden einzelnen so zu sehen, wie sie erscheinen. Was ein Ding, was ein Mensch tatsächlich und im Ganzen ist, das bleibt Spekulation. Das Hindenken, um genauer hinzusehen und intensiver spüren zu lassen, lässt mich die Qualität  einer Leibesatmosphäre erfahren, die jedes und jeder hat. Ich kann erspüren, ob die Qualität dieser Atmosphäre zu mir passt, mich offener, empfänglicher, freier und zufrieden macht. Ich will hinsehen, weil mehr in den Dingen, den Plätzen, den Tönen, den Menschen zu entdecken ist. Auf diese Weise ergibt sich für mich der Sinn meines Lebens. Durch dieses Eintauchen in die Leiblichkeit des Anderen und der Anderen empfinde ich ein Verbundensein. Der Zufall mag die Ursache für Vieles sein, doch mit der leiblichen Betrachtung eigne ich mir auch den Zufall an und es ist ein Zusammenhang spürbar. 

 

Ich schreibe, um andere auf dem Weg zum Hinsehen mitzunehmen, möglichst bis zu dem Ufer, an dessen gegenüberliegenden Seite sich die Oberfläche verflüchtigt und die Phänomene noch mehr von ihrem Geheimnis preisgeben.

Beiträge von Thomas Holtbernd

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

„Vertraue, aber prüfe nach.“ Lenin hat dieses russische Sprichwort häufig in seinen Schriften verwandt. Ihm wird fälschlicherweise das Zitat „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ zugeschrieben. Besser wird die Aussage dadurch jedoch nicht. Im Zeitalter hochkomplexer Zusammenhänge und der durch die Digitalisierung möglichen Kontrollen ist Vertrauen zu einer unverzichtbaren Ressource geworden, die sich als Ruf nach Authentizität und Natürlichkeit ins Bewusstsein des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses bringt.

Blümchensex und boring religion

Religion ist langweilig geworden. Sex kann durch das Internet jederzeit konsumiert werden und irgendwie ist Sexualität unter den Verdacht geraten, vor allem frauenfeindlich zu sein. Erotik wird schnell sexistisch genannt und insgesamt scheint die sexuelle Revolution beim Blümchensex gelandet zu sein. Das lässt die Frage aufkommen, ob das Schwinden erotischer oder sexueller Befreiungsversuche mit dem Phänomen einer langweilig gewordenen Religion zusammenhängt.

Von der Häresie der Kirchenbauten

Räume vermitteln Atmosphären. Atmosphären resultieren aus sinnlichen Erfahrungen. Sinnliche Erfahrungen sind ein Konglomerat aus körperlichen Empfindungen, rationalen Benennungen und kognitiven Verarbeitungen. Kognitive Verarbeitungen enthalten Sinnzuschreibungen und eben auch theologische Überzeugungen. Es kann oder muss sogar gefragt werden, welche Aussagen in einem von Menschen geschaffenen Gebäude enthalten sind und ob bei Kirchenbauten Häresien auszumachen sind? Ein erster Versuch soll im Folgenden dazu gemacht werden.

Die Zerstreuung des Individuums

In der Geschichte der Menschheit gibt es in den letzten Jahrhunderten die großen Kränkungen durch Kopernikus, Charles Darwin, Karl Marx und Sigmund Freud. Hatte der Mensch gedacht, er stünde im Mittelpunkt des Universums, der Gesellschaft und seiner eigenen Person, so musste er erfahren, dass die Welt nicht um ihn kreist, er nur ein unwichtiger Punkt im Weltall ist, eine Stufe der Evolution, ein Produkt des Seins und noch nicht einmal der Herr im eigenen Haus. Die Globalisierung wurde bislang noch nicht in der Reihenfolge der Kränkungen beleuchtet. Das Besondere an dieser Kränkung dürfte sein, dass der Mensch selbst einen Zustand verursacht hat, der ihn in seiner Identität in Frage stellt.

Das gemeinsame Fremde ist das Neue

Fremdenhass, Ausländerfeindlichkeit, Rassenhass, Diskriminierung finden sich als Schlagworte im 21. Jahrhundert wie Landmarken, die das sozio-kulturelle Klima prägen würden. Es wird dann analysiert, dass das Fremde den Menschen Angst mache. Es wird überlegt, wie man zu einer Gesellschaft gelangen könne, die friedlich ist, wo Menschen so sein können, wie sie sind. Andere meinen, dass es eine Überfremdung gäbe und man für Ordnung sorgen müsse.

Zum Phänomen des Vergessens im digitalen Zeitalter

Das Erinnern scheint im digitalen Zeitalter dem Vergessen gewichen zu sein. Es ist nicht notwendig, sein Gedächtnis zu bemühen, das Suchen bei Google ist schneller. Das Vergessen erspart den Aufwand mühsamen Erinnerns. Gleichzeitig sucht der Mensch nach Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit, die wiederum davon abhängig sind, dass man den anderen nicht vergisst, im Gedächtnis behält, was den anderen bewegt, was man gemeinsam erlebt hat usw. Zugleich nimmt mit der Demenz das Vergessen krankhafte Züge an.

Umkehr statt Veränderung: Vorsätze und Eliten

Am Ende eines Jahres nehmen sich viele vor, in Zukunft etwas ansatzweise oder grundlegend zu ändern. Solche Vorsätze halten oft nicht lange vor, werden schnell aufgegeben oder man muss erkennen, dass der Wille zwar vorhanden, doch das Fleisch schwach ist. Es muss also eine Sache grundsätzlich angegangen werden und da helfen keine Schönheitsreparaturen, sondern nur eine Abkehr von alten Gewohnheiten, die als Umkehr oder Heimkehr zum Eigentlichen gefühlt werden kann. Auf diese Weise kann man zu den Besten gehören und ist zudem authentisch.

Weihnachtsmärkte, Langeweile mit Lametta

Langeweile stellt sich dort ein, wo eine Verheißung von ihrem Inhalt gelöst wird. Der äußere Schein allein bewegt nicht, löst keine Inbrunst aus. Weihnachtsmärkte sind neben vielem anderen ein Symptom dafür, dass Traditionen und Bräuche verödet sind wie ein See, der keinen Zufluss mehr hat. Sinn- und Religionsanbieter, die Suchende als Kunden ansprechen, sind das Pendant zu einem Fest, das nur noch gefeiert, aber nicht mehr verstanden wird.

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