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Vom Leben in Blasen zur funktionalen Architektur

Die Menschen leben in einer Blase, der Kontakt zu anderen Menschen findet viele Stunden am Tag nicht real und unmittelbar statt, sondern über die technischen Medien. Das Äußere wird wahrgenommen als Bereitstellung einer Infrastruktur, die die Kommunikation in dieser Blase gewährleistet. Das spiegelt sich im Straßenbild wider.

Moderne Architektur und Städteplanung scheinen von diesem besonderen Phänomen beeinflusst zu sein. Die Qualität der Umgebung als ästhetisch hochwertig tritt hinter die Funktionalisierung für ein Fortkommen im Automobil oder den überall möglichen und störungsfreien Empfang für das Smartphone zurück. An öffentlichen Orten fällt eine Beobachtung mehr und mehr auf:

Das Auto als Vorläufer der Blasen-Kultur

Die Menschen schauen auf ihr Smartphone und schalten äußere Reize ab. Wie in einer Blase sind sie von ihrem unmittelbaren Umfeld abgeschlossen und auf sich bezogen. Gleichzeitig müssen sie diese Blase gar nicht als solche empfinden, weil sie mit dem Smartphone ja gerade mit einem anderen Blasenbewohner verbunden sind. Das Phänomen dieses Ein- oder Abgeschlossenseins in seiner eigenen Welt ist keineswegs neu. Die Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg haben diesen Blasenzustand zu einer bestimmenden Kultur entwickelt. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurden mit dem Volkswagen die Menschen in einen Ort versetzt, der einem Uterus gleicht. Nach dem Krieg wurde das Auto zu einem Statussymbol und zu einer Normalität. Wirtschaft, Städtebau und Politik unterstellten sich der Macht der Automobilität. Einschränkungen, die der Autoindustrie schaden könnten, wurden mit der Bedeutung für die deutsche Wirtschaft zurückgewiesen. Das Argument „Arbeitsplatzsicherung“ garantierte die fast uneingeschränkte Macht der Autokonzerne. Straßen, die Schneisen in Städte und Landschaften schlugen, wurden bedenkenlos geplant und gebaut. Während die Nachkriegsgeneration mit dem VW-Käfer voller Stolz über die Alpen nach Italien fuhr, sind es heute leistungsstarke PKWs und SUVs, die das Gefühl der unbegrenzten Beweglichkeit symbolisieren. Gemeinsam ist den verschiedenen Auto-Erfahrungen, dass es sich um die Bewegung in einer Blase namens Auto handelt. Innerhalb dieser Blase findet in den meisten Fällen ein nicht-soziales Leben statt, weil sich nur in Ausnahmen weitere Insassen in dieser Blase befinden, die meisten Fahrten mit dem Auto werden alleine gemacht. Der Kontakt zu den anderen Verkehrsteilnehmern ist mittelbar und über Verkehrsregeln geordnet. Gefahren für sich und andere werden aus dieser Blase heraus, in der sich der Einzelne sicher fühlt, wahrgenommen und daher oft unterschätzt.

Auswirkungen der Blasen-Erfahrungen

In dieser Blase fühlen sich die Menschen der westlichen Hemisphäre wohl und geschützt. Sie lösten damit eine Blasenpandemie aus, denn die Möglichkeit des Autofahrens wurde fast zu einem Menschenrecht, das Auto ist weltweit zum Symbol für Wohlstand, Freiheit und Mobilität geworden. Diese Blasenerfahrung wiederum hatte Auswirkungen auf die Architektur, denn sie wurde zumindest zum Teil dafür gebraucht, um für die einzelnen Blasen ein entsprechendes Umfeld zu schaffen. Die Funktion der Bebauung besteht darin, dass für die Blasen ein sicherer Platz wie Garage, Parkplatz etc. geschaffen und die Bewegungen als Blase möglich gemacht wurden. Dass auch noch gewohnt werden muss, wurde fast zweitrangig. Die Zeit, die Menschen in diesen Blasen wie Auto oder Nutzen des Smartphones verbringen, macht einen ziemlich großen Teil des Tages aus. Manchmal hat man gar den Eindruck, dass einige Menschen sich gar nicht aus dieser Blase herausbewegen wollen. Die Zeit mit dem Smartphone und im Auto, manchmal sogar beides, umfasst fast die gesamte Wachphase des Tages.

Diese Gewohnheit, in einer Blase zu verbleiben, prägt das alltägliche Leben und formt die Wünsche an eine Stadtarchitektur und für Gebäude. Der Wunsch nach Bewegung, nach Empfang ohne Funkloch, nach einer Steckdose, falls der Akku leer ist, wird mit Freiheit verbunden. Viele fühlen sich in ihren Menschenrechten beschränkt, wenn sie nicht überall in gleicher Weise Empfang haben und damit in ihrer Blase verbleiben dürfen. Die Autoindustrie verabschiedet sich nicht vom Individualverkehr, stattdessen verstärkt sie die Schalen der Blasen und rüstet sie mit vielen technischen Details aus, damit der Verkehr untereinander reibungslos ablaufen kann und die Notwendigkeit, sich von Person zu Person zu verständigen, immer mehr zurücktritt und die Steuerung durch einen handelnden Fahrer überflüssig wird. Die Technik und Infrastruktur dienen der Sicherheit, der Fehlerhaftigkeit des Menschen wird ein System von Sicherheitsmechanismen entgegengesetzt. Und solche Strukturen, die dem einzelnen Menschen die Verantwortung und Aufgabe der Aufmerksamkeit und Konzentration abnehmen, finden sich immer mehr im öffentlichen Raum. Das Internet der Dinge nimmt dem Menschen sogar alltägliche Aufgaben ab. Die Architektur wird um diese Infrastruktur herumgebaut und verliert die Bedeutung für das Schöne. 

Neue Befindlichkeit

Gleichzeitig bedeutet dies eine Quadratur des Kreises, denn „Wir sind in einem Außen, das Innenwelten trägt.“ (Sloterdijk, 28) wie Peter Sloterdijk schreibt. Auf der einen Seite müssen all die Maßnahmen bedacht werden, die den Bewohner in seiner Blase beschützen, auf der anderen Seite muss der Wohlfühlcharakter von Architektur deutlich sichtbar erscheinen. Die Blasenaktivitäten vergrößern den Wunsch danach, sich in dieser Blase auch gemütlich einrichten zu können, die Illusion von Gemütlichkeit entstehen zu lassen. Die Architektur stellt weniger die Grundlagen für eine Atmosphäre dar, die den Wohlfühlcharakter aufgrund der gemeinschaftlichen Dynamiken möglich macht. Deshalb wirken manche Plätze steril und kalt, sie wecken kaum das Bedürfnis, sich dort aufzuhalten. Da der Blasenmensch verlernt hat, außerhalb der Blase zu denken, werden die Ansprüche an das Außen höher, wobei aufgrund der Tatsache, dass Wohlfühlen gar nicht mit Kriterien benannt werden kann, Modetrends wichtig werden, die, weil sie gerade in sind, scheinbar Gewähr dafür bieten, dass man bestimmte Stimmungen erleben könnte. Diesen Trends liegt ein kapitalistischer Aspekt zugrunde. Es handelt sich immer um einen Massenartikel oder eine effizient organisierte Dienstleistung. Und wiederum ist auch dies keine neue Erkenntnis. Bereits Gilbert K. Chesterton, der Autor der Pater Brown Geschichten, schrieb 1927: „Es liegt klar auf der Hand, dass die ganze Angelegenheit eine Maschine zur Fertigung von zehntklassigen Dingen ist und dazu dient, die Menschen über die Möglichkeit zu erstklassigen Dingen in Unkenntnis zu lassen.“ (Chesterton, 210) Man könnte behaupten, die Menschen in kapitalistisch geprägten Ländern sind systematisch dazu erzogen worden, ihre Wahrnehmung und Aufmerksamkeit abzutöten, um eine Ware oder Dienstleistung haben zu wollen, die rein ökonomisch intendiert ist. Das Haben wurde trainiert und das Sein zur Ware gemacht, sodass es auch zu haben ist.

Habituelle Gewohnheiten

Das Leben in diesen Blasen und der Gebrauch industriell gefertigter Waren und genormter Dienstleistungen hat über Jahrzehnte zu einem Unwissen darüber geführt, was erstklassig ist. Ansonsten würden die Menschen nicht auf die Ankündigungen der Discounter warten, um dann frühmorgens in die Läden zu stürzen und etwas zu kaufen, was viele andere Kunden auch kaufen oder zu den Fastfoodketten zu gehen, um dort etwas essen wollen, was industriell gefertigt wird. Die Discounter und Fastfoodketten wiederum sind aufgrund dieser Dynamik in Räumlichkeiten, die überall gleich und lediglich funktional sind. Chesterton, der Discounter und Fastfoodketten noch nicht kannte, äußert sich zu Großgeschäften jedoch schon ähnlich: „Das große Geschäft ist meines Erachtens ein schlechtes Geschäft, nicht nur moralisch, sondern auch in einem kaufmännischen Sinne, und dort einzukaufen ist nicht nur eine schlechte Haltung, sondern zugleich ein schlechtes Geschäft.“ (Chesterton, 64) Für Chesterton ist es selbstverständlich, dass der Besitzer eines kleinen Ladens sich um die Zufriedenheit des Kunden bemüht: „Die Arbeit ist vielmehr dann ordentlich, wenn sie von einem bestimmten Handwerker für einen bestimmten Kunden […] ausgeführt wird.“ (Chesterton 64) Großgeschäfte, Discounter und Ketten müssen die Zufriedenheit der Kunden durch ein Qualitätsmanagement absichern, denn „Es gibt sehr viel mehr Fehler in einem großen Geschäft, als sie jemals einem kleinen unterlaufen, wo der individuelle Kunde den individuellen Ladenbesitzer dafür verantwortlich machen kann.“ (Chesterton, 65) Diese Art des Einkaufens wie auch des Amüsements sind in den kapitalistisch geprägten Gesellschaften zum Habitus geworden. Gebäude, Dienstleistungen und der Umgang untereinander werden aus dieser Perspektive betrachtet. Das Individuelle wird als Trend oder Werbegag initiiert, es erscheint jedoch kaum noch als real wahrnehmbare Erfahrung. Die Fähigkeit, Qualität oder Kreativität zu erkennen, ist in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft kontraproduktiv. Es würde zum Beispiel die Lebensmittelindustrie in riesige Probleme bringen, wenn die Menschen die Qualität schmecken könnten. Und ebenso würden Menschen Stadtteile oder Häuser meiden, wenn sie die Gestaltung von ihrer Qualität her spüren und wahrnehmen könnten. Auch scheinbar exklusive Häuser würden gemieden werden, wenn sie als Massenware erkannt würden.

Blasenarchitektur

Die Annahme, dass diese Blasenerfahrung zu einem Habitus geworden ist, führt zu dem Schluss, dass das Außen nicht als ein Gegenüber verstanden wird, sondern lediglich als Infrastruktur. Der Anspruch an ästhetische Herausforderungen steht nicht im Mittelpunkt. Die Menschen verlernen es, die Atmosphäre einer Umgebung wahrzunehmen. Wie die Farbe einer Häuserwand auf die eigene Befindlichkeit wirkt, wird kaum wahrgenommen, weil zunächst die Frage positiv beantwortet werden muss, ob dort der Handyempfang ausreichend ist und man mit dem Auto gut dorthin fahren und möglichst nah parken kann. Funktionale Architektur ist jedoch langweilig, wenig belebend und regt den Geist kaum an. Somit werden die Menschen auch wenig herausgefordert, entwickeln kaum Ansprüche an eine qualitätsvolle Architektur sowie Städteplanung und empfinden irgendwie so etwas wie Ödnis, können jedoch nicht benennen, was sie genau meinen und woran sie das festmachen. Um zum Beispiel die Architektur des Hauptstadtbahnhofs in Berlin zu erfassen, muss man sich dort aufhalten und die Atmosphäre auf sich wirken lassen. Wohl relativ schnell wird dann deutlich, dass die Bahnhofsarchitektur ein Betrug ist. Die Durchsichtigkeit durch die Glaskonstruktion lässt das Ankommen und Wegfahren als eine transparente Funktion erscheinen. Gleichzeitig verdeckt die Architektur durch die Etagen das Einfahren und Ausfahren der Züge wie es zum Beispiel in einem Kopfbahnhof wie in München deutlich sichtbar ist. Die Transparenz macht die Funktion oder soll die Funktion sichtbar machen, verdeckt jedoch die eigentliche Funktion, nämlich die Mobilität als Ablenkung. Wer mobil ist und die Welt bereist, gilt als weltmännisch. Die Architektur dient diesem Funktionalismus und den kapitalistischen Mechanismen, die Menschen in ihren Blasen bewundern Architektur oft nur als ihre Beschreibung. Bei Wikipedia wird nachgelesen, was es zu sehen gibt, das eigene Sehen wird als Störung wahrgenommen. Wie auch in der Kunst sind die Hinweise und theoretischen Erklärungen in den Vordergrund gerückt. Somit könnte auch auf das Objekt gänzlich verzichtet werden. Dass dies immer öfter auch so ist, erkennt man jedoch nur, wenn man aus seiner Blase heraustritt.

Literatur:
Gilbert K. Chesterton (2020). Umriss der Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz.
Peter Sloterdijk (1998). Sphären I. Blasen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Kategorie: Gesehen

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