Ein kleines biologisches Virus, kein digitales, hat im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen die gesamte Welt in die Knie gezwungen. Die Hybris, mit der manche vor Ausbruch der Pandemie meinten, den Menschen als gottgleich zu fantasieren, wurde von einem mikroskopisch kleinen Zellpaket gebrochen. Größenwahnsinniger Fortschrittsoptimismus und schier unbegrenzte digitale Möglichkeiten auf der einen, menschlich-biologische Begrenztheit und Vulnerabilität auf der anderen Seite. „Die Heldinnen und Helden dieser Krise leben und arbeiten nicht im Silicon Valley, sondern stehen an Kranken- und Pflegebetten, an den Kassen der Supermärkte oder sitzen hinter LkW-Lenkrändern, um die Lieferketten nicht abreißen zu lassen“, schreiben Roland Knillmann und Michael Reitemeyer im Vorwort zu „Menschliche Gesellschaft 4.0“. In dem kürzlich vom Herder Verlag veröffentlichten Sammelband, der verschiedene Perspektiven aus Politik, Wirtschaft und Kirche bündelt, wird die Frage nach dem Menschenbild in Zeiten fortschreitender Digitalisierung buchstäblich wie philosophisch virulent. In vier Kapiteln diskutieren verschiedene Autoren, was die Gesellschaft menschlich macht:
Teil 1 widmet sich der Frage nach einem Neuen Menschenbild. Magnus Striet unternimmt einen Angang aus der Perspektive theologischer Anthropologie, um Digitalität und Künstliche Intelligenz einzuordnen und weist auf die Aufgabe der Theologie hin, für die Situation der Schwachen zu thematisieren und sich für sie einzusetzen. Das Menschenbild des Transhumanismus, das macht Janina Loh deutlich, entwickelt den Menschen weiter, optimiert, modifiziert und erweitert ihn. Seine Methode ist die technologische Transformation des Menschen zu einem posthumanen Wesen: Mensch x.0. Der technologische und der kritische Posthumanismus möchten den Menschen „überwinden“. Sie hinterfragen die gängigen Dichotomien von Frau/Mann, Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt: Der Mensch als „Krone der Schöpfung“ wird abgelöst von einer artifiziellen Superintelligenz.
Teil 2 schaut auf eine veränderte und sich verändernde Arbeitswelt 4.0 und entwickelt eine Vision menschenwürdiger Arbeit nach dem fundamentalen Grundsatz christlicher Soziallehre: Urheber, Mittelpunkt und Ziel allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns und aller Institutionen ist der Mensch (vgl. Gaudium et Spes 63). Andreas Luttmer-Bensmann zitiert den Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning, der in bereits in den 1970ern-Jahren voraussagte: „Ich denke nicht an die 35-Stunden-Woche, auch nicht an die 24-Stunden-Woche. Ich denke an eine viel weitergehende Arbeitszeitverkürzung. Ich stelle mir vor, dass wir dahin kommen werden, dass zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht“.
Teil 3 reflektiert den Digitalen Wandel hinsichtlich einer möglichen Gefährdung für die Demokratie. So stehe - laut Oliver Eckert - das abgeschottete chinesische Internet, in dem alles dem Staat gehorche, einem entfesselten amerikanischen Internet gegenüber, in dem der Staat seine Macht an die Big Techs abgegeben hat. Kritisch hingewiesen wird auf den „selbstverstärkenden Effekt“ der Algorithmen sozialer Plattformen: Jeder Klick ist eine positive Verstärkung, die dazu führt, dass dem Nutzer mehr desselben angezeigt wird. Stefan Muhle stellt fest, dass in der Coronakrise diese Dynamik weiter eskaliert sei. Social Bots und Deep Fake würden gezielt tendenziöse Falschmeldungen verbreiten. Muhle hält unsere Demokratie nicht für selbstverständlich und ruft dazu auf, uns aktiv für ihren Fortbestand einzusetzen. Ursula Nothelle-Wildfeuer fordert, dass aus dem Verhalten der User einerseits Recherchekompetenz gefördert werden müsse und andererseits auch die Kompetenz, die Ergebnisse zu sortieren, einzuordnen und bewerten zu können.
In Teil 4 blickt Martin Schnellhammer in den Pflege- und Gesundheitsbereich und fragt, inwieweit Robotik, der Einsatz von Exoskeletten und Systeme zur Datengewinnung, -modifizierung und -analyse die Pflegekräfte in näherer Zukunft entlasten können. Während in der Automobilindustrie Roboter in einem „eingezäunten Bereich“ eingesetzt würden, um Unfälle zu vermeiden, sei in der Pflege das Zusammenwirken der Roboter mit Mitarbeitenden und Patienten notwendig. So können Exoskelette von kraftanstrengende Bewegungen entlasten.
Der Sammelband „Menschliche Gesellschaft 4.0: (Christliche) Beiträge zum Digitalen Wandel“ ist der Ertrag eines Symposiums, welches im Juli 2019 vom Diözesancaritasverband, der Katholisch-Sozialen Akademie des Bistums Osnabrück und dem Ludwig-Windthorst-Hauses in Lingen durchgeführt worden ist. Die einzelnen „Spots“ auf wesentliche Entwicklungen seien willkürlich, aber nicht zufällig gewählt. So ergibt sich ein schlaglichtartiger Erkundungsgang zu Menschenbild, Arbeitswelt, Demokratie und Zukunft der Pflege. Bei allen Kapiteln wird deutlich, dass weitere Analysen und ihre Einordnung notwendig sind. Die ersten „Sondierungen“ brauchen eine Fortsetzung, um dem Megathema in seiner Komplexität gerecht werden zu können. Insgesamt gelingt es dem Sammelband, reflektierte christliche Stimmen aus dem deutschen Sprachraum zusammenzuführen.
KNILLMANN, Roland; REITEMEYER, Michael (Hg.): Menschliche Gesellschaft 4.0: (Christliche) Beiträge zum Digitalen Wandel. Herder: Freiburg im Br., 2020, 141 S., 18,- EUR
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