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Religion braucht die rechte Hirnhälfte

Gott ist so groß, dass wir ihn nicht erfassen können. Nur Ahnung ist möglich. Diese braucht die rechte Hirnhälfte. Die linke verfügt nur über einem kleinen Scheinwerfer, der jeweils nur einen Teil des Ganzen ausleuchtet. Ein Plädoyer für Abschalten und Meditation

 

Unser Leben ist wie eine Fahrt durch einen Nebelschleier. Wir können Einzelheiten deutlich erkennen. Das Ganze, in dem wir uns bewegen, ist uns zwar immer mit präsent, aber mehr im Empfinden. Wenn wir nachts über eine abgelegene Landstraße fahren, dann sehen wir die Kurven, Bäume, einmündende Wege jeweils deutlich, sobald das Licht des Scheinwerfers sie uns sichtbar werden lässt. Dabei haben wir immer das größere Ganze mit in unserer Vorstellung. Auch wenn der Lichtkegel nur einen kleinen Ausschnitt zeigt, wissen wir, dass es mehr gibt als das, was wir gerade sehen. So steuern wir auch unser Leben. Wir sind von Vielem abhängig, können uns aber immer nur mit einem Ausschnitt der Wirklichkeit konzentriert beschäftigen. Oft ist es wie bei einer Fahrradtour. Wir mühen uns einen Berg hinauf, versuchen uns an einer Weggabelung zu orientieren, konzentrieren uns auf das Flicken eines Platten und haben dabei immer auch mit im Bewusstsein, wo wir ankommen wollen und durch welche Gegenden wir noch radeln werden. Tagsüber beschäftigen wir uns meist mit einem bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit. Im Schlaf wie in der Meditation treten wir davon zurück und stimmen uns in den Gesamtzusammenhang von möglichst allem ein. Das zeigt Julius Kuhn in seinem Buch "Spirituelle Intelligenz" auf. Die hier beschriebenen Strukturen unseres Selbst verknüpft er mit dem aktuellen Stand der Hirnforschung. 

Die rechte Hirnhälfte greift auf das Ganze aus

Um den jeweiligen eingeengten Ausschnitt der bewussten Wahrnehmung und unserer Tätigkeit in das Gesamte einzubeziehen, braucht es die rechte Hirnhälfte. Die linke Hirnhälfte ist für das schrittweise und logische Vorgehen zuständig. Wenn ich also einen Platten flicke, arbeitet die linke Hirnhälfte die notwendigen Tätigkeiten ab, während die Rechte mir die Landschaft, die Vorausschau auf die vor mir liegende Strecke, den Gedanken an Menschen zu Hause, an mein Berufsfeld, das ich verlassen habe und alles andere, was mein Leben umgibt, einspielt. Während also die rechte Hirnhälfte wie ein Radar bis zum Horizont das Umfeld meines Lebens absucht und daher vage bleibt, schaltet die linke Hirnhälfte dieses Umfeld aus, um sich ganz auf den Fahrradschlauch, das Finden des Loches und dann das Aufkleben des Flickens zu konzentrieren. Ob eine Rechenaufgabe oder eine Verhandlung vor Gericht, die genaue Beobachtung in einem Labor, immer geht es um einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Wir können nur im Kleinen etwas bewerkstelligen. Dafür brauchen wir die Wachheit unseres Bewusstseins. In diesem Feld funktioniert auch Wissenschaft. Da fühlen wir uns deshalb sicherer, weil mit dem Scheinwerfer unseres bewussten Hinschauens wir auch die Kontrolle über die Abläufe gewinnen. Bis aus dem Dunkel des Umliegenden Wildschweine die Straße kreuzen und uns in einen Unfall verwickeln. Um mit dem Ungewissen umgehen zu können, gibt es die Religion. Sie reicht sogar über die Grenze des Ungewissen hinaus, die wir mit dem Tod überschreiten. Jedoch müssen wir nicht an diesen Übergang heranrücken, um uns der Erkenntniskraft der rechten Hirnhälfte zu bedienen

Der Mensch als Person

Julius Kuhl macht in "Spirituelle Intelligenz" bei Seite 199 auf einen Unterschied aufmerksam, den wir täglich erleben. Der andere Mensch tritt uns meist eingeengt auf eine Funktion entgegen. Für den Zahnarzt ist es der Mund, für den Steuerberater die Zahlen auf dem Konto, für die Verkäuferin die Haarfarbe der Kundin, die die Farbauswahl des Kleidungstücks bestimmt. Wenn ich jedoch den anderen ganzheitlich als Person wahrnehme, aktiviere ich die rechte Hirnhälfte und mit ihr die vielen Erfahrungen, die ich mit Menschen gemacht habe, um dieses Gegenüber gerecht zu werden. 

Die Materie geht ins Ungreifbare über

Wenn die Hirnforschung die unterschiedlichen Leistungen der verschiedenen Hirnareale beschreibt, dann kann sie nur die Aktivität dieser Region messen. Was in den Neuronen passiert, das Wahrnehmen, das Spüren, das Ahnen, das logische, schrittweise Vorgehen kann sie nicht erkennen. Nur wenn der einzelne darüber Auskunft gibt, können die jeweils aktiven Hirnareale auf einem Bildschirm dargestellt werden. Vergleichbares gilt auch für die Materie. Wir sind bis in das Innere des Atomkern vorgedrungen und können sogar die Protonen und Neutronen noch einmal in die Quarks zerlegen, wissen aber zugleich, dass wir nur das erkennen, was wir mit physikalischen Instrumenten sichtbar machen. Die Materie selbst erreichen wir nicht, sondern nur die in Messdaten Aspekte, mit denen sie auf unsere Instrumente reagiert. So zeigt sich je nach Versuchsanordnung dasselbe Materieteilchen einmal als Welle und mit einer anderen Versuchsanordnung als Korpuskel, als Teilchen. Was die Materie „wirklich“ ist, wird uns durch die Quantenphysik immer rätselhafter.

Die Wahrnehmungsfähigkeit der rechten Hirnhälfte

Wir würden gerne mit unserem bewussten Erfassen der Wirklichkeit hinter diese Grenzen kommen. Bleiben wir damit auf der linken Hirnhälfte, stoßen wir früher an eine Grenze. Hinter dieser liegt der Personkern unseres Gegenübers mit seinem Geheimnis der Freiheit. Die Physik hat ihre Grenze in ihren Messgeräten. Röntgenstrahlen können nur bis zu der Kleinheit vordringen, die durch die Breite ihrer Wellenlänge vorgeben ist. Die ist sehr klein, dahinter liegt aber noch etwas, wofür die Röntgenstrahlen zu grob sind, um es zu erfassen. Inzwischen gibt es Teilchenbeschleuniger, die noch feinere Strukturen der Materie sichtbar machen können, aber auch diese stoßen an eine Grenze, hinter der sich das Geheimnis der Materie verbirgt.
Wenn wir auf die rechte Hirnhälfte umschalten, dann gibt es von dort Zugänge zur Wirklichkeit, die von einer Innenschau herkommen. Nähert sich die linke Hirnhälfte von außen der Erfassung der Welt, so die Rechte über Gespür und Ahnung. Sie stößt nicht von außen auf das Objekt, sondern taucht in eine Geistwahrnehmung ein. Sie nimmt das Geistige nicht gegenständlich wahr, sondern als Bewegung. Gerade die christliche Religion wie auch der Hinduismus nähern sich dieser Wirklichkeit. Meditation und Gebet haben daher eine hohe Bedeutung. Menschen, die sich eher im Erkenntnisvermögen der linken Hirnhälfte bewegen, halten Gebet und Meditation für unproduktiv. Die Theologie ringt darum, diese Seite der Religion, die der rechten Hirnhälfte zugänglich ist, zu integrieren, bleibt aber in den westlichen Ländern bei der Mehrzahl ihres Personals auf den Denkwegen der linken Hemisphäre. Mit dem Verständnis der Religion, das so entsteht, hat der sog. wissenschaftliche Atheismus leichtes Spiel. 

Dieser Beitrag ist mit den Denkwerkzeugen der linken Hirnhälfte geschrieben. Jutta Mügge hat die geistigen Erfahrungen, die über die rechte Hirnhälfte zugänglich sind, von innen her dargestellt: Traut nicht jedem Geist

Wir gehen bei hinsehen.net weiter auf Erkundung der Landschaften, auf die die Wissenschaft sich nicht vorwagt und ebenso wenig die Philosophie, die deshalb zu Angst, Schuld, Tod und Auferstehung schweigt. Deshalb bleiben Platon wie auch Heidegger, und mit ihnen die Phänomenologie, weiterhin eine lohnende Lektüre. 

Die rechte Hirnhälfte sollte auch für Entscheidungen einbezogen werden, denn dann stimmen diese mehr mit meiner Person überein: Mit der rechten Hirnhälfte entscheiden


Kategorie: Analysiert

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