Brücke in der Konstruktionsphase, Frankfurt, Foto: hinsehen.net

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

„Vertraue, aber prüfe nach.“ Lenin hat dieses russische Sprichwort häufig in seinen Schriften verwandt. Ihm wird fälschlicherweise das Zitat „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ zugeschrieben. Besser wird die Aussage dadurch jedoch nicht. Im Zeitalter hochkomplexer Zusammenhänge und der durch die Digitalisierung möglichen Kontrollen ist Vertrauen zu einer unverzichtbaren Ressource geworden, die sich als Ruf nach Authentizität und Natürlichkeit ins Bewusstsein des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses bringt.

Vertrauen kann als eine subjektive Bereitschaft definiert werden, in einen anderen oder eine Gesellschaft vorausschauend materiell oder immateriell zu investieren. Eine solche Vertrauensbereitschaft bildet sich durch Erfahrungen, die jemand im Laufe seines Lebens macht. Als Säugetier und Nesthocker ist es für den Menschen unvermeidlich, dass das Angewiesensein auf die Fürsorge der Eltern zu einer Prägung im Umgang mit sich und der Welt führt. Gelingt diese Interaktion und führt die Fürsorge zu einem Vertrauen darin, dass Bedürfnisse befriedigt werden, kann ein Selbstvertrauen entstehen. Die Fremdsorge entwickelt sich zu einer Selbstsorge. Eltern können ihren Kontrollwunsch oder ihre Fürsorgebemühungen immer weiter einschränken, bis sie sich sicher sind, dass das Kind ein ausreichendes Bewusstsein für sich aufgebaut und die notwendigen Mittel hat, konkret für sich zu sorgen. Aus einem Vertrauen des Kindes zu seinen Eltern wird so ein Zutrauen zu sich selbst. Dieses Zutrauen darin, dass man in der Lage ist, Selbstsorge zu betreiben, ist wiederum die Erfahrung einer Selbstwirksamkeit oder Selbstmächtigkeit. Der Einzelne ist sich sicher, dass er selbst in schwierigsten Situationen etwas tun kann, was sein Überleben und auch seine Lebenszufriedenheit sichert.

Sicherheit versus Kontrolle

Sicherheit gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Bestimmte Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit ein Mensch heranwachsen und in seiner Persönlichkeit gebildet werden kann. In der Kindheit entsteht dabei ein Amalgam aus gewachsenem Vertrauen und magischen Vorstellungen von Sicherheit durch Kontrollen. Der Teddy kann zu einem Beschützer, magische Formeln oder Handlungsabläufe können als Sicherheitsvorkehrungen angenommen werden. Es kann ein Kinderglaube an einen beschützenden Gott entstehen, dem vertraut werden kann, der dafür jedoch die Einhaltung festgelegter Regeln verlangt. Solche Vorschriften müssen einer strengen Kontrolle unterzogen sein, damit die positive Zuwendung gesichert ist. Kontrolle wird hier durch Vertrauen ersetzt. Ein gewisser Vorteil besteht in der Annahme eines solchen Gottesbildes darin, dass die Selbstmächtigkeit durch die gute Beziehung zu diesem Gott bestärkt wird. Die Hinwendung zu solch magischen Vorstellungen, die aufgrund fehlender Fürsorge der Eltern erforderlich sein kann, erfordert ein hohes Maß an Selbstkontrolle, die jedoch nicht auf das Selbst direkt bezogen ist, sondern auf Vorschriften und Regeln, die dem Überleben des Selbst geschuldet sind. Eine Gesellschaft, die mehr und mehr Kontrollinstanzen in das gesellschaftliche Leben implementiert, schützt das Selbst, allerdings nur als solches. Terrorabwehr und die damit verbundene Überwachung durch Gesichtserkennung u. ä. dienen allgemein der Sicherheit und sind damit ein hohes Gut. Auf der anderen Seite wird der Anteil in der Heranbildung von Vertrauen gestützt, der sich auf die magische Vorstellung von Sicherheit bezieht. Vertrauensbildung als positiv-konstruktive Hinwendung zu einer anderen Person wird damit ins Private verlagert.

Authentizität und Vertrauen

Die deutliche Verlagerung des Vertrauens in die Begegnung zwischen konkreten Menschen wird zu einer großen Herausforderung an die Erfahrbarkeit von Vertrauen. Um sich sicher sein zu können, dass der andere mein Vertrauen verdient, müssen Überprüfungskriterien vorhanden sein. Die Fragen nach der Authentizität und Natürlichkeit gelten gemeinhin als eine Gewähr dafür, dass Vertrauen berechtigt ist. Kinder erfahren ihre Eltern jedoch manches Mal ganz und gar nicht authentisch. Die Eltern meinen es gut und „belügen“ ihre Kinder, machen ihnen Versprechungen, die sie nicht einhalten, erklären die Welt wissentlich falsch, verstellen sich und verhalten sich ganz und gar nicht authentisch. Dennoch kann ein Kind Vertrauen zu seinen Eltern entwickeln, weil das Bemühen der Eltern um ihr Wohl als Ganzes spürbar ist. Das Kind kann durch das erfahrene Vertrauen ein großes Selbstvertrauen entwickelt haben und dadurch in der Lage sein, die Eltern zu durchschauen, um trickreich das zu bekommen, was es braucht. Authentizität und Natürlichkeit sind für die Entwicklung kindlichen Vertrauens wichtig, werden allerdings insbesondere bei der Hinwendung ins Außen zu einer Qualität. In der Binnenstruktur einer Familie sind die konkret erfahrene Sicherung und Förderung des Selbstvertrauens entscheidend. Ein authentisches Verhalten anderen Menschen gegenüber reduziert den Kontrollaufwand, der in der Binnenstruktur weniger notwendig ist, weil dort Verhaltensweisen leichter voraussagbar und durch Gewöhnung selbstverständlich ablaufen. Das Vertrauen in das System Gesellschaft verlangt jedoch mehr als Authentizität. Was im zwischenmenschlichen Bereich Authentizität genannt wird, findet sich als Wunsch nach Transparenz Organisationen und dem Staat gegenüber. Transparenz wiederum setzt Vertrauen in die Menschen voraus, die Vorgänge transparent machen. Denn was offen gelegt wird, ist immer nur eine Auswahl und entscheidende Faktoren können verschwiegen werden.

Vertrauen ist eine Angelegenheit von Verrückten

Wer einem anderen Menschen oder auch einer Institution vertraut, verhält sich höchst paradox. Würde er überprüfen, ob der andere sein Vertrauen verdient, vertraut er ihm nicht wirklich. Würde er einem anderen Menschen allerdings blind und naiv vertrauen, könnte es zu seinem Schaden sein. Vertrauen ist daher nicht eine Eigenschaft, die losgelöst von anderen Begabungen oder Charakterzügen ausgeübt werden kann. Vertrauen ist zunächst das Ergebnis erfahrenen Vertrauens und der dadurch möglichen Selbstsorge, die das Vertrauen in die eigene Selbstmächtigkeit steigert und nachhaltig stützt. Das Vertrauen in einen bestimmten Menschen kann von anderen als verrückt angesehen werden, weil es unbegründet erscheint. Das Selbstvertrauen desjenigen, der diesem Menschen vertraut, ist nicht nur Schutz, sondern gleichzeitig das Wissen um die Macht, im anderen etwas freizusetzen und damit Vertrauen zu provozieren. Bezogen auf Organisationen ist ein solch verrücktes Vertrauen das Wissen um die Möglichkeiten des Selbst, spontan und kreativ reagieren zu können und selbst im Gefängnis bzw. bei einem brutalen Zurückgeworfensein auf sich selbst, den Kern der eigenen Identität bewahren zu können. Die Paradoxie des Vertrauens und die Fähigkeit, diese Ambivalenz aushalten zu können, verlangen den Mut zum Verrückten und gerade das wird nicht als vertrauensvoll definiert. Ein Mensch, der anderen Menschen und Organisationen Vertrauen entgegenbringt, fühlt sich in seinem Vertrauen bestätigt, wenn ihm dies als verrückt attestiert wird. Er würde misstrauisch, wenn sein Verhalten oder seine Einstellung als ausreichend kontrolliert und die Sicherheitsüberprüfungen als erfolgreich passiert gelten würden.



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