Erst das Gezählte trägt, Foto: hinsehen.net e.B.

Kommunikation ohne Zahlen

Wollen wir eine Meinung oder einen Sachverhalt mit Argumenten unterstützen, so sind wir geneigt, Zahlen und Statistiken anzuführen. Diskussionen werden schnell in eine bestimmte Richtung gelenkt, wenn die Zahlen eindeutig erscheinen. Dass Statistiken manches Mal geschönt, in einer bestimmten Weise präsentiert werden und damit irreführend sein können oder auch frei erfunden sind, das vermuten wir durchaus. Dennoch haben Zahlen eine fast magische Wirkung auf uns.

Wir kennen heilige Zahlen, wie die 3, die 7, die 12 und andere. Zahlen können auch Chiffren sein, wie „1968“ oder „nine eleven“. Werden solche Zahlen genannt, schwingt in unserer Vorstellung immer auch mit, was diese Zahlen bedeuten. In einer sehr technisch orientierten Welt sind Zahlen auch so etwas wie eine Lebensgrundlage. Die ständige Gegenwart von Zahlen hat unser Kommunikationsverhalten und die Wahrnehmung bestimmter Phänomene in unserer Umwelt wohl maßgeblich geprägt.

Fragt uns jemand nach der Uhrzeit, so antworten wir mit Zahlen, zum Beispiel 14:03 Uhr. Eine besondere Aussage liegt in diesen Zahlen nicht. Wir müssen solchen Zahlen erst eine Bedeutung zuschreiben, damit sie für uns einen Sinn machen. Würden wir – wie im Süden oft üblich – antworten, es ist Mittagsruhe, hätte unsere Antwort einen deutlichen Bezug, wir wüssten, die Geschäfte sind geschlossen und wir müssen warten. Zahlen, die Wahrscheinlichkeiten angeben, sind für uns ebenso nicht wirklich bedeutsam. Wenn es 1 zu 139.838.160 wahrscheinlich ist, dass wir 6 Richtige plus Superzahl getippt haben, so sagen diese Zahlen überhaupt nichts darüber aus, ob wir bei der nächsten Ziehung der Lottozahlen den großen Gewinn erzielen. Die Zahlen geben lediglich an, mit welcher geringen Möglichkeit wir rechnen müssen, doch den Eintritt der Möglichkeit können wir nicht voraussagen. Mediziner geben auch oft Wahrscheinlichkeiten an, mit der eine Krankheit eintreten kann, tatsächlich voraussagbar ist das Auftreten einer Krankheit dabei nicht.

Die Welt der Zahlen

Viele Bereiche des öffentlichen Lebens werden mit Zahlen abgebildet. Wir hören regelmäßig, wie stark die Zahl der Arbeitslosen gestiegen oder gesunken ist, wie die Inflationsrate ist, wie sich das Bruttoinlandsprodukt entwickelt usw. Das alles sind keine wirklich erfahrbaren Phänomene. Spürbar ist nicht eine steigende Inflationsrate, sondern dass ich Hunger habe, weil mir durch die Teuerung Geld im Portemonnaie fehlt und ich daher weniger kaufen kann. Auch die Zahl der Flüchtlinge hat keine große Bedeutung, die ist abstrakt. Allerdings kann Menschen Angst gemacht werden, wenn Zahlen in den Raum geworfen werden. Umgekehrt lässt sich auch mit Zahlen nicht überzeugen und ein anderes Verhalten oder eine andere Einstellung erzeugen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Risikoeinschätzung. Dass wesentlich weniger Menschen bei Flugzeugabstürzen sterben als im Straßenverkehr, hält niemanden davon ab, sich nicht mehr ins Auto zu setzen.

Ein Gedankenexperiment

Philosophen machen keine Versuche im Labor, sie denken sich manchmal Situationen aus, die sie mit bestimmten Annahmen durchdenken. So ein Gedankenexperiment könnte die Frage sein: Wie würde sich unsere Kommunikation verändern, wenn wir keine Zahlen hätten? Bei der Angabe von Zeit müssten wir auf den Tagesablauf Bezug nehmen: Wenn die Sonne gerade aufgegangen ist, wenn sie am höchsten steht usw. Bei der Dauer von etwas müssten wir Vergleiche mit Tätigkeiten heranziehen: Für dies und das brauchst du solange wie du brauchst, wenn du den kleinen See umrundest. Unsere Gespräche, so der erste Eindruck, würden recht umständlich und kompliziert. Wie würden wir formulieren, welchen Lohn jemand für eine Tätigkeit bekommt oder was eine Ware kostet? Gäbe es so etwas wie die Börse? Unsere Sprache wäre weniger abstrakt, wir müssten viele Dinge umschreiben und manche Tätigkeiten wären uns gar nicht möglich. Auch unser Denken würde sich verändern, wir würden wohl weniger Wert auf Genauigkeit im Detail legen und mehr bemüht sein, Phänomene exakter wie auch blumenreicher zu beschreiben. Unser Sprechen würde länger dauern, weil wir weniger durch Formeln abkürzen könnten.

Reden ist mehr als Informationsweitergabe

Vielleicht ist eine wichtige Erkenntnis dieses Gedankenexperiments, dass unsere Kommunikation durch die Zahlen stark auf Informationsweitergabe hin orientiert ist. Wir betrachten ein Phänomen in unserer Umwelt als eine Information, die wir berechnen oder in unsere Berechnungen einbeziehen können. Der Klimawandel wird mit Zahlen beschrieben. Wären wir nicht daran gewöhnt, dass wir ein Phänomen wie den Klimawandel damit zu fassen versuchen, dass Forscher von einer durchschnittlichen Temperatur reden, die zwei Grad höher gemessen wurde als vor einigen Jahren, dann müssten wir das Phänomen beschreiben lernen. Wir müssten sammeln, was wir unmittelbar sehen, spüren oder hören. Und es kann angenommen werden, dass mit solchen Beobachtungen und Beschreibungen die Distanz kleiner würde, die wir zu solchen Phänomenen haben. Insgesamt wären wir Menschen wohl gezwungen, mehr miteinander zu reden und ausführlicher unsere Ansichten zu formulieren. Und darum kann man sich auch bemühen, wenn man die Zahlen nicht abschafft.



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