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Ich bin nicht meiner Meinung

Von Karl Marx stammt ein ironisch klingendes Bonmot, das das Phänomen von Meinung und Meinungsmache sehr gut erklären kann: „Wenn etwas sicher ist, dann, dass ich kein Marxist bin.“ Derjenige, der ein Gedankengebäude entwickelt, eine Lehre initiiert, ist keineswegs der, der dann in der Erzählung vom Begründer der Lehre die Person mit einer Meinung ist. Um dem Ursprung eines Meinungsmachers näher zu kommen, scheint es hilfreich zu sein, die Lehre oder Meinung von seinem Urheber zu trennen. Und der Lehre kommt man näher, wenn man sich nicht als Anhänger einer Meinung versteht.

Auch wenn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem scheinbaren Sieg des Kapitalismus der Kommunismus kaum noch der Rede wert zu sein scheint, wird man bei genauer Betrachtung der realen Wirklichkeit feststellen, dass der Marxismus keineswegs verschwunden ist. Christoph Henning zum Beispiel hat mit seinem Buch „Marx und die Folgen“ Spuren der kommunistischen Ideen nachgezeichnet. Auch Slavoj Zizek weist in seinen Büchern, vor allem in „Der Mut der Hoffnungslosigkeit“, nach, wie lebendig die marxistischen Ideen sind. Sie sind es aber nicht als marxistische Ideen. Der Vorschlag des Philosophen, Psychoanalytikers und Kulturkritikers Zizek besteht darin, das Bonmot von Karl Marx ernst zu nehmen.

Der Autor einer Meinung

Habe ich mir eine Meinung gebildet, erscheint mit diese als klar und mit meiner Persönlichkeit eng verbunden, ich vertrete meine Meinung. Dennoch bin ich nicht meine Meinung, denn bei selbstkritischem Blick in die Vergangenheit stelle ich fest, wie oft ich meine Meinung aufgegeben, verändert oder weiterentwickelt habe. Vertrete ich eine bestimmte Meinung, kann damit andere überzeugen und gewinnt diese Meinung einen gewissen Schwung, dann hat sich meine Meinung vergesellschaftet, ich bin nicht mehr der ‚Besitzer‘ dieser Meinung, ich habe die Ausformung dieser Meinung lediglich initiiert. Insofern ist es zwingend, dass Marx kein Marxist ist. Insbesondere trifft dies zu, wenn der Urheber einer Meinung gestorben ist, dann hat er keine Möglichkeit mehr, Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess zu nehmen. Die Adepten und Hüter einer Lehre machen aus einer Meinung das, was sie wiederum meinen, daraus machen zu müssen. Wie beim Marxismus müssten auch Christen sich dazu bekennen, keine Christen zu sein, weil sie nur so dafür sorgen könnten, das Christentum zu bewahren.

Meinung als Bewegung

Nimmt man ernst, was Christen glauben, so steht man vor einem scheinbaren Paradoxon. Im Gegensatz zum Marxismus hat sich das Christentum als eine Bewegung verstanden und käme auch ohne Meinung oder Lehre aus. Jesus hat die in Schutz genommen, die ‚dumm‘ oder kindlich glaubend waren. Zum Glauben kommt man nicht durch die Kenntnis der Theologie. Oft erstickt eine akademische Theologie eher den Glauben. Oder der Marxismus wird verraten, wenn man die MEW Gesamtausgabe gelesen hat und versucht, die wahre Lehre zu finden. Im Christentum ist es wie in anderen Religionen. Auffallend ist, dass viele Religionsgründer keine Lehrbücher geschrieben haben und man von ihnen nur wenig weiß. Der Tod am Kreuz ist eine besondere Variante der Boykottierung einer Lehre. Wenn nichts Schriftliches vorhanden ist, keine wirkliche Lehre oder Meinung existiert, dann ist der Tod des Gründers die Beendigung einer Meinungsbildung und gleichzeitig die Aufforderung, in Bewegung zu kommen. Es geht nur weiter, wenn der erste Schritt das Weitermachen ist. Der Versuch, die gehörte Meinung des Verstorbenen zu einem System zu entwickeln, verhindert das Hören der Botschaft, die rein personal ist. Es ist eine Beziehungsangelegenheit und keine Meinung.

Es ist das System und nicht das Individuum

„Oder sollen etwa die objektiven Fehler einer Institution den Individuen zur Last gelegt werden, um ohne Verbesserung des Wesens den Schein einer Verbesserung zu erschleichen.“ heißt es bei Karl Marx. Er beginnt seine Kritik mit der instrumentalisierten Religion. Es helfe gegen die Missstände keine Theorie, sondern nur die Praxis. Wenn man Auferstehung als Fortbestehen der Praxis versteht, die Jesus begonnen hat, dann müssten Christen die heftigsten Religionskritiker sein, um das Primat der Praxis zu schützen. Jeder kann sich dazu eine Meinung bilden, doch würde er einen Irrweg beschreiten, wenn er auch dieser Meinung wäre. Vor dem Christsein als Lehrgebäude kommt die Praxis. Und kein Geringerer als Thomas von Aquin wollte seine Meinung, also seine Schriften, vernichten, weil er dieses Praxisprimat gespürt hat. Mit anderen Worten, im Marx-Jahr kann man durchaus zu der Meinung kommen, dass es sich lohnt, seine Meinung durch die Lektüre von Karl Marx zu hinterfragen und dann aufzugeben, weil man sich durch die eigene Meinung von seiner Persönlichkeit entfremden könnte. Für das Christentum gilt das Gleiche.



Kommentare (1)

  1. Kolbeck am 04.04.2018
    Dass mit den Religionsstiftern mag ja stimmen. Jesus hat kein Buch geschrieben, aber er stütze sich auf die Schriften, die es ja gab und die in den Tempeln bewahrt und vorgetragen worden sind. Jesus hielt Abstand zu all diesem Schriftlichen, weil er vermutlich wusste und davon ausgehen konnte, dass fast alle Schriften seiner "Vorfahren" im Glauben politisch missbraucht worden waren. Für mich gibt Jesus mit der Emmaus Geschichte den Wendepunkt an, ihn und Gott zu finden, nämlich ihn in den Spuren der Welt, des Miteinanders, des Feiern des Mahles zu entdecken und ihm zu folgen, wie er vor und nach seinem Tod deutlich gemacht hat, nach "Galiläa", das der französische Bischof J. Gaillot so deutet, dass es überall sei, wo Menschen andere zum Leben aufrichten, so wie Jesus es praktiziert hat..

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