Dass Genuss als etwas Schönes und Erstrebenswertes gilt, dürfte allgemein Anerkennung finden. Was jedoch genau Genuss ist, wie es sich anfühlt, wenn man etwas genießt und vor allem, welche Voraussetzungen ein genussvolles Tun hat, das erweist sich als ein schwieriges Unterfangen. Zunächst lässt sich recht schnell konstatieren, dass im Gesichtsausdruck und in der Körperhaltung eines genießenden Menschen so etwas wie Öffnung oder Entspannung zu beobachten ist. Man kann es auch mit dem bekannten Worten Martin Luthers sagen: „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“ Jemand, der verkrampft oder verbissen jetzt endlich genießen will, der hat die Türen nicht weit genug geöffnet, um das Angenehme hereinzulassen. Will man einen Wohlgeruch genießen, so zieht man die Luft nicht ein, wodurch sich die Nase engstellen würde, sondern weitet die Nasenöffnungen und lässt die Luft einströmen. Genuss ist verbunden mit einer körperlichen Entspannung und leiblichen Weitung.
Das wertfreie Spüren
Das, was der entspannte Körper empfindet, wird ohne Fokussierung auf etwas Bestimmtes aufgenommen. Wer sich auf ein bestimmtes Aroma, etwa beim Riechen, konzentriert, verspannt sich und hat vielleicht diesen speziellen Geruch wahrgenommen, doch ein Gesamteindruck stellt sich nicht ein und vor allem fehlt der Genuss. Beobachtet man eine Wein-Degustation, so wird der Genießer irritiert sein, dass der Schluck Wein gleich wieder ausgespuckt wird. Es werden dann Dinge gesagt, die böse Zungen als Geschwurbel bezeichnen. Was ein Satz wie „Jeder Schluck schlägt ein neues Kapitel auf, mal reserviert, dann alle Röcke hebend und tanzend.“ aussagen soll, entzieht sich dem Verständnis. Solche Formulierungen machen auf der anderen Seite deutlich, dass die Reaktion auf einen Sinneseindruck zunächst rein körperlich ist und für das Wahrgenommene kein passender Begriff gefunden wird. Wer zu schnell benennt, was er da empfindet, schließt den Prozess ab, bevor sich das Wahrgenommene entfalten konnte. Zum Genuss gehört das Nachspüren, bei dem der Eindruck geordnet und erst versuchsweise in Worte gebracht wird. Dabei würden Wertungen einzelner Elemente stören, das Nachspüren führt zu einem Gesamteindruck. Etwas Hässliches, Stinkendes oder Störendes kann im Nachklang die besondere Nuance des Genusses ausmachen. Hätte man gleich am Anfang diese Miss-Note bewertet und deshalb als störend definiert, wäre der vollkommene Genuss des Gesamteindrucks nicht entstanden. Wer zum Beispiel einen Käse zurückweist, weil er so erbärmlich stinkt, kann die wunderbaren Aromen nicht schmecken.
Die namenlosen Gelüste
Das wertfreie Benennen der Sinnessensationen macht auch sensibel für übliche Benennungen. Wer einfach nur sagt „Das stinkt!“, folgt vielleicht gebräuchlichen Einschätzungen. Doch das Wort ‚stinkt‘ ist negativ belegt und damit wird die Aufmerksamkeit von dem weggelenkt, worauf es sich bezieht. Umgekehrt ist es genauso. Einem Aroma, das als wohlriechend bezeichnet wird, widmet man mehr Interesse. Ein Genuss müsste zunächst sprachlos machen. Ich weiß nicht, wie ich das bezeichnen soll, was ich gerade genieße und jeder Versuch der Beschreibung ist irgendwie falsch. Zur Kontrolle gehe ich wieder zu meinen körperlichen Eindrücken zurück und überprüfe, ob mein sprachlicher Versuch trifft. Irgendwann bin ich zufrieden mit meiner Formulierung, weiß jedoch auch, dass mein körperliches Empfinden etwas anderes ist als seine Benennung.
Genuss ist Bescheidenheit und Dank
Die Unfähigkeit, das, was ich genieße, angemessen benennen zu können, führt mich in einen Zwiespalt. Auf der einen Seite schreit es aus mir heraus, ich will meiner Freude Ausdruck geben, anderen begeistert davon mitteilen und auf der anderen Seite weiß ich, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind, wirklich das auszudrücken und anderen „rüberzubringen“, was ich empfinde. Das macht bescheiden, vielleicht kommt daher die Formulierung ‚stiller Genießer‘. Es stört, wenn jemand bei einem köstlichen Essen zu euphemistisch daherredet. Man hat dann den Verdacht, dass sich jemand den Hochgenuss einreden muss und nicht wirklich etwas spürt. Solche Menschen stören die Andacht, die das Genießen umgibt. Die andächtige Stille ergibt sich vor allem aus einem Gefühl des Dankes. Dieser Genuss ist etwas Besonderes, hebt sich vom Alltäglichen ab, ist vielleicht das Ergebnis langen Suchens oder anstrengender Bemühungen und jetzt genießt man es. Ein wenig hat der Zufall mitgespielt und ich darf es kosten.
Genuss und Muße
Genuss und Muße sind sich sehr ähnlich. Ich muss mir Zeit nehmen, doch das wäre noch nicht Muße. Ich zwinge mich, aus der Geschäftigkeit des Alltags herauszutreten. Die Sinne müssen durchgepustet werden, damit ich feiner spüren kann. Ich erlebe die Zeit, die ich mir nehme, intensiver, weil die Sinnesempfindungen stärker und vielfältiger sind. Meine Gedanken müssen zur Ruhe kommen, damit ich meine Sinnesempfindungen nicht gleich an einen Gedanken binde. In Muße können Gedanken spielerisch herumwirbeln. Genuss und Muße sind nicht zweckgebunden. Ich kann nicht die Muße suchen, um anschließend ausgeruht und wieder arbeitsfähig zu sein. Muße ist ein Selbstzweck. Ebenso ist es beim Genuss. Ich genieße ein gutes Essen, einen guten Wein, eine Reise, Musik, Kunst o. a., weil ich mich genau darauf konzentrieren möchte. Ich will Genuss und nicht Entspannung oder therapeutische Maßnahmen zur Aufhellung meiner depressiven Stimmung. Entspannung und Freude können sich aus dem Genuss ergeben, auch wenn sie nicht angestrebt werden.
Genuss als philosophische Tätigkeit
Lässt ein denkender Mensch Genuss in vollem Umfang zu, so befreit er sich von seinen Vorannahmen, er lässt das Ding an sich gelten und leistet quasi Vorübungen philosophischen Denkens. Der Genießer lernt immer wieder, ganz vorurteilsfrei auf die Dinge dieser Welt zuzugehen und sich überraschen zu lassen. Und der Genießer trennt sein Philosophieren nicht vom Leben. Vielleicht sind wir zu sehr daran gewöhnt, dass Philosophie eine universitäre Angelegenheit und lebensfremd ist. Ob dies tatsächlich so ist, das ist eine ganz andere Sache. Ein Mensch, der ein Freund der Weisheit und des Denkens sein möchte, beginnt seine Schule sinnvoller Weise beim Genuss und lässt die dicken Bücher erst beiseite. Und dann findet man sich irgendwie beim Lesen eines Philosophen und genießt es, dass man erstmal nichts versteht.
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