Hängt die Freiheit in der Luft oder bringt sie den Menschen zu seinem seblstgesteckten Ziel? Foto: hinsehen.net E.B.

Freiheit – nicht postfaktisch verramschen

Die Algorithmen bedrohen nicht nur die Arbeitsplätze. Sie wissen auch bereits besser, was uns das Leben noch angenehmer machen würde. In der von den Naturwissenschaften bestimmten Kultur sind wir nicht darauf vorbereitet, in dieser neuen Konstellation unsere Freiheit zu gestalten. Gentechnik und Hirnforschung lehren uns Abhängigkeit, nicht Freiheit.

Die Kultur, die wir aufgebaut hat, sucht nach Gesetzen, wie die Natur und der Mensch funktionieren. Mit diesen Gesetzen, denen Physik und Biologie, Gentechnik und Hirnforschung auf der Spur sind, können wir alles steuern. Diese Welt ist dann postfaktisch, alles läuft geregelt ab, sogar die Bahn fährt wieder pünktlich. Wo hat die Freiheit noch ihren Platz? Und welche Weltanschauung und welche aus ihr entspringende Religion gibt der Freiheit dann noch Platz? Religiöse Vorstellungen, die erklären, dass mein Leben von anonymen Faktoren gesteuert wird, sind nicht so neu.

Den Kräften der Himmelskörper ausgesetzt?

Wenn Religion das Gesamte der Wirklichkeit umfassen will, entsteht aus einem naturwissenschaftlich formulierten Weltbild die religiöse Vorstellung, dass mein Leben von Kräften gelenkt wird, die mich persönlich nicht kennen können. Wenn ich in ihren Einflussbereich gerate, wirken sie automatisch auf mich. Eine frühe Religion zu dieser Weltanschauung befragt die Sterne, um etwas über das eigene Schicksal zu erfahren. Menschen, die Horoskope ernsthaft lesen, ihr Tierkreiszeichen und den dazu gehörigen Aszendenten kennen, erfahren von Astrologen oder Astrologinnen, mit was sie in Zukunft rechnen können. Wenn man die Chinesen verstehen will, dann kann man sich über die Astrologie in sie hineinversetzen. Sie haben die Vorstellung, dass himmlische Mächte das Ganze lenken. Da der Himmel geordnet erscheint, ist auch das menschliche Leben geordnet. Das Individuum fügt sich am besten in diese Ordnung ein. Mao Zedong bewirkte nur eine Unterbrechung dieses Weltbildes. Er wollte die Ordnung, die die einen reich und die andere arm gemacht hatte, mit der kommunistischen Lehre und dann durch die sog. Viererbande mit der Kulturrevolution durcheinanderbringen, um die alten Abhängigkeiten aufzulösen. Es sollte Gleichheit hergestellt werden. Dieses Projekt wurde in den siebziger Jahren abgeblasen. Ab da konnte die kommunistische Herrschaft mit wirtschaftlichen Freiheiten zusammen funktionieren. Mit der Revision der Kulturrevolution war die kommunistische Partei zum Ordnungsgedanken und damit zu Konfuzius zurückgekehrt. 

Die himmlischen Kräfte werden im Westen zu Trends

Im Westen ist die Vorstellung, dass die Menschen von unpersönlichen Kräften geleitet werden, nicht nur bei den Anhängern der Astrologie lebendig, sondern auch in all den Untersuchungen und Berechnungen über die Entwicklung der Konjunktur. Wir schauen nicht mehr in den Himmel, um aus den Sternen die Zukunft abzulesen oder wir im alten Rom aus dem Vogelflug wichtige Hinweise zu gewinnen. Von der Marktforschung machen Unternehmen ihre Produktionsplanungen abhängig, die Werbung sendet Botschaften, die aus den Untersuchungen abgelesen werden. Auch die Politikhört auf diese neue Priesterschaft. Nicht Sternenkräfte, sondern Trends lenken nach Auffassung der Nationalökonomen, der Journalisten und der Berater, auf die die Politiker hören, unser Leben. Man muss die richtigen Bilder und Worte finden, damit die Menschen entsprechend den Trends reagieren. Auf einmal tragen die jungen Leute weiße Tennisschuhe, während die Älteren zu farbigen Walkern tendieren. Besteht dann Freiheit darin, bei den besohlten Lederschuhen zu bleiben?

Wir fühlen uns gelenkt

Gab in Babylonien und angrenzenden Ländern wie auch im Machtzentrum des Römischen Reiches die Leber geschlachteter Tiere Auskunft über die zukünftigen Entwicklungen, schauen heute die Trendforscher, welche Kräfte den modernen Menschen steuern. Sie machen Trends aus, denen wir dann folgen müssen, weil es angesagt ist, in einem SUV durch die Altstadt zu fahren. Dieser technische Aufwand wird getrieben, obwohl wir uns mit einem Kleinwagen sehr viel leichter bewegen und auch einen Parkplatz finden könnten. Obwohl uns diese Fahrzeugwahl nicht bewusst ist, wie würden ja sonst mit einem Kleinwagen unterwegs sein, projizieren wir die Trends nicht mehr auf Wirkungen außermenschlicher Kräfte oder Mächte, sondern sehen uns selbst als die Hervorbringer dieser steuernden Kräfte. Wir folgen ihnen unbewusst, während die Trendforscher diese bewusst reflektieren, um uns zu sagen, wie wir uns anziehen und mit welchem Auto wir unterwegs sein sollen. Wir verdrängen, dass die Social Media inzwischen so viele Daten über uns gesammelt haben, dass sie unsere Kaufentscheidungen voraussagen können. In absehbarer Zeit müssen wir nicht mehr einkaufen, weil Amazon jetzt schon weiß, wie unser Kühlschrank aufzufüllen ist. Es fehlen nur noch die Drohnen, die das Eingekaufte auf unserem Balkon ablegen. Wir haben unsere Freiheit in die vermuteten Trends „eingewickelt“ und sind nicht zuletzt deshalb so berechenbar geworden. Wollen wir weiter in einer solchen Kultur leben?

Postfaktisch durch Künstliche Intelligenz

Obwohl wir uns in unseren Kaufentscheidungen noch frei fühlen, sind wir inzwischen für den größten Teil unseres Handlungsspektrums berechenbar. Die Konsumforschung braucht keine Umfragen mehr, sondern sammelt Daten über unsere Vorlieben aus den Social Media. In China sammelt das politische Systeme Daten über die Denk- und Handlungsfelder jedes einzelnen und erhält damit eine Lenkungsmacht, die die frühere Geheimpolizei nicht beibringen konnte. So etwas wie in Belarus wird dann kaum noch möglich sein, wenn Autokraten die Möglichkeiten verstehen lernen, die Amazon u.a. bereits perfekt beherrschen. Die kommunistische Partei Chinas setzt die Möglichkeiten bereits um. Da wir in unseren Handlungsabläufen nicht sehr variabel sind und Algorithmen mehr Daten erfassen und auch effektiver als wir mit unserem Gedächtnis auswerten, sind sie uns auf Dauer überlegen. Künstliche Intelligenz spielt eben die Möglichkeiten der digitalen Informationsverarbeitung aus, die in Sekunden sehr viel mehr Daten verarbeiten kann als unser Gehirn.

Freiheit neu freilegen

Freiheit wird, wenn Amazon für uns besser einkauft als wir es können, nicht mehr in Kaufentscheidungen erlebt werden. Die Konsumwelt wird ihren Reiz verlieren. Wir müssen uns neu auf das einlassen und auch gesellschaftlich verständigen, was es in der digitalen Kultur heißt, frei zu sein. Der totalen Überwachung entkommen wir nicht mehr.
Die Philosophie wurde einmal entwickelt, um uns und damit unsere Freiheit verstehen lehren. Dazu ist der jetzt vorherrschende Naturalismus mit seinem Menschenbild nicht mehr in der Lage. Denn er hat mit dem von ihm entwickelten Menschenbild der im Entstehen begriffenen Zivilisation, die auf totale Lenkung ausgerichtet ist, den Weg bereitet. Die Mehrzahl der Professoren dieses Faches bestimmen entsprechend den Optionen des Naturalismus den Menschen als das von den Naturgesetzen gelenkte Wesen. Das ist philosophisch gesehen kein so großer Unterschied zu dem Blick in das Horoskop. Ob Sterne oder physikalisch, chemische und biologische Gesetze – sie wirken auf uns, wenn wir in ihren Einflussbereich kommen. Im Prinzip geht es um Kräfte, z.B. die Gravitation, die uns bestimmt, ohne uns kennen zu müssen. Sie wirken und ich kann mich nur ihren Wirkungen aussetzen, um zu überleben.
Der Grund für diese Fokussierung auf die Naturgesetze ist eigentlich aus einer Schwäche geboren. Seitdem die Philosophie sich nicht mehr auf eine Bestimmung des Menschen als Wesen mit einem Personkern verständigen kann, muss sie auf die Wissenschaften zurückgreifen, die unumstößliche Erkenntnisse liefern. Diese haben die Form von mathematisch formulierten Gesetzen. Da auch die Wirtschaftswissenschaften unser Handeln und das der Unternehmen unabhängig von unserer Freiheit verstehen will, zielen sie wie die Physik auf Berechenbarkeit. Die Wirtschaft wird wie ein mathematisches Modell verstanden, aus denen das Marketing abgeleitet wird.

Den Faktor „Freiheit“ möglichst ausschalten

Der philosophische Naturalismus wie die Wirtschaftswissenschaften zielen auf voraussagbare Vorgänge, die nicht vom Menschen, sondern von Gesetzmäßigkeiten bestimmt sind. Dieses Denken kann die Freiheit nicht fassen, denn diese ist nicht Folge äußerer Einwirkungen, sondern selbst Ursache ihrer Handlungen. Wäre die Freiheit berechenbar, dann wäre sie Folge und nicht Ursache von dem, was zwischen Menschen geschieht. Wenn Freiheit als postfaktisch erklärt wird, dann wird es noch aussichtsloser, wieder zu ihrem Kern vorzustoßen. Welche gesellschaftlichen Kräfte setzen diesem Menschenbild der Berechenbarkeit ein Freiheitskonzept entgegen?
Die Liberale Partei wirkt nicht zuletzt deshalb so verstaubt, weil sie das Individuum gegen die Eingriffe des Staates zu schützen vermeint. So bestimmend der Staat durch die Stasi in der ehemaligen DDR erlebt wurde, Amazon und Google sind in ihrer Informationsgewinnung sehr viel weiter. Nachdem Softwarefirmen Wahlen beeinflussen können, liegt die Freiheitsbedrohung nicht mehr in der Vorratsdatenspeicherung, sondern in den Billionen Daten auf den Servern der Technologiekonzerne. Wenn aber weder die gängige Philosophie noch die Partei, die Freiheit in ihrem Namen hat, sich um ein Verständnis der Freiheit bemühen, das die Situation des 21.Jahrhunderts im Blick hat, dann sollten wir anderen nicht warten. In der Freiheit geht es ja um jeden von uns. Mit ihr sollen wir unsere einmalige Biographie formen. Das kann uns niemand abnehmen, denn dann wäre es nicht unser Leben. Wenn wir diese Zivilisation als postfaktisch, also als nicht mehr änderbar akzeptieren, werden wir von Algorithmen gelebt.

Durch einen neuen Text-Algorithmus werden die Geisteswissenschaftler in Bedrängnis gebracht. GPT-3 kann selbst Texte formulieren Künstliche Intelligenz bedroht Textarbeiter

Freiheit wird nicht nur durch ein naturalistisches Menschenbild und die totale Lenkung durch digitale Datensammlung und -Verarbeitung bedroht, sondern auch von der Macht. Jutta Mügge zeigt auf, wie in der Auseinandersetzung mit dem Auftreten und der Machtausübung anderer die Frage nach einem Garanten von Wahrheit und Gerechtigkeit entsteht: Gott, der meine Freiheit will


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Kategorie: Analysiert

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