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Fastenzeit: Negative Gefühle nicht mit einer App betäuben

Kann ich trotz der gegenwärtigen Kontaktbeschränkungen auf mein Handy verzichten? Fasten erscheint in dieser entbehrungsreichen Zeit widersprüchlich und irgendwie unnötig. Für unseren Autor und vielleicht für viele seiner Generation erfüllt sein Smartphone viele andere innere Bedürfnisse als nur das nach Kommunikation. Smartphone-Fasten heißt für ihn, negative Gefühle nicht sofort mit Apps zu betäuben – und das Handy nicht mit Gott zu verwechseln.

Sich nicht ablenken

In der Zeit vor Ostern bin ich in den letzten Jahren regelmäßig auf Exerzitien gefahren, „Geistliche Übungen“, Schweige- und Gebetszeiten, in denen man 5-10 Tage am Stück nicht spricht, nicht liest, das Handy ausschaltet, um durch nichts abgelenkt zu werden und einmal auf das zu hören, was sich mir im Inneren zeigen will, das wahrzunehmen, was im Alltag normalerweise übertönt wird. Während dieser Tage und danach habe ich regelmäßig gemerkt, wie wenig mir mein Smartphone fehlt. Ich kündige vorher meinen wichtigsten Kontaktpersonen an, dass ich nicht erreichbar sein werde und nehme mir meist noch ein paar Tage Zeit, nachdem ich zurück bin, um langsam wieder in den digitalen Kommunikationsalltag zurückzukommen. Die Woche ist mit mehreren Stunden Meditation und täglichem Gebet, Mahlzeiten, Spaziergängen, etwas Arbeit in der Küche, einem täglichen Begleitgespräch, Tagebuchschreiben gut gefüllt. Ich verspüre dort überhaupt kein Bedürfnis nach meinem Handy.

Smartphone betäubt ungute Gefühle

Ganz anders speilt das Smartphone in meinem Alltag eine zentrale Rolle. Durch die Einschränkungen in den vergangenen Monaten hat es sich noch mehr Raum und Zeit genommen. Damit meine ich nicht nur digitale Kommunikation mit Familie und Freund*innen bei WhatsApp oder Video-Anrufe. Immerhin kann man sich auf diese Weise sehen, eine gewisse Nähe herstellen. Aber gerade die fehlende physische, die körperliche Nähe kann ich damit nicht ersetzen, das sinnliche Erleben, Umarmungen, die Gerüche. Oft bleibt mir nach einem Video-Gespräch ein Gefühl innerer Leere zurück. Ich fühle mich sogar noch weiter entfernt, sehnsüchtiger als vorher. Um diese negativen inneren Regungen nicht aushalten zu müssen, greife ich zum Smartphone. Es lenkt mich von meinen Gefühlen ab, von diesem globalen pandemischen Trauma, von meiner Trauer, die ich nicht ausleben kann, weil ich weiter funktionieren muss, von der Angst davor, was ich später noch erledigen muss, um nicht wirtschaftlich und persönlich unterzugehen und davor, wie lange wir das noch aushalten müssen, von Tag zu Tag zu leben, von Lockdown zu Lockdown.

„Mein Handy ist da, wenn ich mich vor dem Alleinsein fürchte, wenn ich unruhig oder traurig bin, gelangweilt oder frustriert. Es sorgt für Ablenkung von meinen Gefühlen. Nur bei meinem Handy habe ich eine hundertprozentige Erfolgschance, dass der gewünschte Zustand sofort eintritt. Ich gehe einfach ins Internet und suche mir aus, welches Gefühl ich gerade hervorrufen möchte“, schrieb schon 2019, weit vor Corona, die damals 22-jährige Autorin Sophia Fritz in ihrem Buch „Gott hat mir nie das Du angeboten“.

Smartphone Im Versteck

Dieses Jahr bin ich wegen der bekannten Vorsichtsmaßnahmen nicht auf Exerzitien gefahren. Mein Handy wegzulassen, wirkte für mich im Lockdown erst einmal widersprüchlich, ich war zurückhaltend, darauf zu verzichten und habe es auch nicht direkt ab Aschermittwoch gemacht. Jedoch am ersten Wochenende der Fastenzeit habe ich dann ziemlich spontan entschieden, auf mein Smartphone zu verzichten. Ich habe es ausgeschaltet, die SIM-Karte herausgenommen, das Gerät in seiner Originalverpackung ganz unten in einen Schober hinter meinem Schreibtisch verstaut. Wenn ich aufs Smartphone verzichten will, muss ich das Gerät so radikal entfernen. Es wegzulegen, zu einer bestimmten Uhrzeit auszuschalten oder „weniger“ draufzuschauen, das schaffe ich nicht.

Handyverzicht?

Auf mein Smartphone zu verzichten, zeigt mir einen wichtigen Aspekt des Fastens auf. Es geht für mich darum, dem Bedürfnis nach „Sofort“ nicht immer – sofort – nachzugeben, sondern bewusst zu verzögern, mich nicht auf Gewohnheiten zu verlassen und latent zwanghaftes Verhalten wegzulassen. Ich finde das schwierig und erlebe es nicht selten als Überforderung, weil ich es im Alltag kaum tue. Ich glaube, das geht vielen so, mindestens in meiner Generation. Wir haben den Impuls, unsere Bedürfnisse, materielle und spirituelle, immer sofort zu erfüllen. Es ist schließlich alles ständig verfügbar, Paket-Lieferung am nächsten Tag, jede Serie in Mediatheken bei Netflix, Prime oder YouTube. Feste Rhythmen und Rituale, Abschalten, Sendeschluss gibt es nicht.
Das Smartphone-Fasten verändert meine Perspektive auf den Alltag, ich fühle ich mich in mancher Hinsicht freier und selbstwirksam, unabhängig von scheinbar Notwendigem, Unabänderlichem. Der Verzicht auf das Smartphone setzt für mich auch unerwartet Energien und Zeiträume frei. Eigentlich wollte ich das Handy am Sonntag nur sicher und schwer erreichbar wegräumen. Daraus wurde spontan eine mehrstündige Aufräum- und Wegwerf-Aktion in meinem Arbeitszimmer, seit Monaten, eher Jahren überfällig. Ohne Smartphone bleibt auch mein Kopf morgens freier. Den Großteil dieses Artikels habe ich an mehreren Tagen früh morgens gleich als allererstes geschrieben, wofür ich sonst keine Energie hätte.

Warten können

Als Fasten hat der Handy-Verzicht auch religiöse Anklänge. Denn der so gewohnte, selbstverständliche alltägliche „Sofort“-Mechanismus der Bedürfnis-Erfüllung überträgt sich auch auf das Gottesbild, die Gottesbeziehung und eine mögliche Gebetspraxis.

„Wenn Gott wie mein Handy funktionieren würde, würde ich öfter beten. Aber mit Gott ist es komplizierter. Gott gibt mir keine Ablenkung. Mein Internet ist schneller als Gott“, schreibt die Autorin Sophia Fritz.

Spiritualität und Religiosität bedeuten für viele in meiner Generation, zur Ruhe zu kommen, einmal nicht erreichbar zu sein, gar nichts tun zu müssen. In den Exerzitien, den geistlichen Übungen in Stille, habe ich meditatives Beten als eine Zeit erlebt, in der ich meine unangenehmen inneren Regungen wahrnehmen und mir selbst zugestehen darf, dass sie in mir sind. Ich muss sie nicht schnell wegschieben, um mich unmittelbar vermeintlich besser zu fühlen. Eigentlich muss ich sie gar nicht verdrängen, sondern ich kann üben, sie zuzulassen, sie als Teil von mir anzuerkennen. Meine negativen Gefühle, Trauer, Schmerz, Angst werden dadurch nicht zu positiven Erfahrungen. Es geht auch nicht darum, Schmerzen aushalten zu müssen, sie gar zu verharmlosen oder nicht zu bearbeiten, sondern sie überhaupt einmal wahrzunehmen und nicht sofort zu bewerten oder zu verändern. Mit Blick auf meine persönliche Gottesbeziehung bekommt der oft wie eine Worthülse klingende Satz „Gott liebt dich so, wie Du bist“, für mich eine spürbare, verstehbare Bedeutung. Gebet heißt nicht, Gott reagiert sofort auf meine Wünsche und Bedürfnisse, indem er sie direkt erfüllt. Er ist nicht wie mein Handy – und so einen Gott will ich auch nicht.

Weiterlesen:
Warum bestimmt mein Smartphone mein Leben überhaupt so stark?

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Buchbesprechung
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Kategorie: Entdecken

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