Über jedes Volk entwickeln sich bestimmte Vorurteile, gewisse Eigenarten lassen sich durchaus feststellen und Ethnologen erforschen solche Besonderheiten. Auch Philosophen beschäftigen sich mit diesen Unterschieden. Helmuth Plessner gab 1955 das kleine Buch von Herbert Schöffler „Kleine Geographie des deutschen Witzes“ heraus. Helmuth Plessner hatte im Wintersemester ein Seminar über den Witz gehalten. Das Seminar inspirierte Herbert Schöffler zu diesem Buch. Beide waren davon überzeugt, „daß eine vergleichende Typenlehre des Witzes der Kulturen, historischen Epochen, Nationen und ihrer Spielarten ein vorzügliches Mittel jeder zukünftigen Völkerpsychologie bilde, […].“ Das Ruhrgebiet kommt in dieser vergleichenden Typenlehre nicht vor. Die Bewohner dieses Landstrichs lassen sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Völkerpsychologie fassen. Hier haben sich verschiedene „Stämme“ zusammengefunden: Westfalen, Rheinländer, Niederrheiner und die hinzugezogenen Arbeiter aus Polen, dem ehemaligen Jugoslawien, Italien, Griechenland und eben auch der Türkei. Und möglicherweise konnte sich das Bild des grauen und dreckigen Ruhrgebiets so sehr verfestigen, weil es nicht mit einem bestimmten Menschenschlag oder Volk verbunden werden konnte. Ein Bayer zum Beispiel kann die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines Vorurteils über das Alpenvölkchen direkt bestätigen oder widerlegen, indem er sich wie ein Bayer benimmt und so spricht. Der Mensch aus dem Ruhrgebiet kann nur hoffen, dass eine Reise durchs Ruhrgebiet den anderen vom Gegenteil überzeugt.
Das Problem der Vorannahmen
Wie soll man sich eine Industrieregion vorstellen? Menschen, die in einer ländlichen Umgebung wohnen oder in einer Stadt, die vor allem durch Wohnhäuser gekennzeichnet ist, können sich kein Bild davon machen. Wenn dann noch hinzukommt, dass die dort lebenden Menschen einfach nur Arbeiter und keinem „Volk“ zuzuordnen sind, dann ergeben sich aus gewissen Momentaufnahmen starre Vorstellungen. Diese Vorannahmen lassen sich nur sehr schwer auflösen. Mit großer Wahrscheinlichkeit nehmen selbst die Bewohner diese Vorannahmen an und beschreiben ihre Heimat in gleicher Weise. Auch wenn mittlerweile die Industrie im Ruhrgebiet größtenteils verschwunden und der Name Kohlenpott eher irreführend ist, bleibt das Vorurteil, dass alles grau und dreckig sei. Und ob die Menschen früher ihre Heimat so erlebt haben, kann nicht wirklich beantwortet werden. Macht man sich klar, dass mitten im Ruhrgebiet der Baldeneysee liegt, jede Stadt ihren Stadtgarten hat, unzählige Kleingartenvereine den Menschen im Ruhrgebiet eine Idylle bieten, Gartenstädte wie Bottrop-Welheim, die Margarethenhöhe in Essen oder die Gartenstadt in Dortmund ein eher dörfliches Bild bieten, dann verschwimmt der Eindruck einer großen Stadt, die unter einer grauen und dreckigen Glocke verborgen ist.
Die Anstrengung des Schauens
Das Phänomen Ruhrgebiet ist zunächst einmal ein Konstrukt. Es bedarf einer großen Anstrengung, sich auf das vorurteilsfreie Schauen einzulassen. Viele Gegebenheiten lassen sich nur schwer beschreiben, weil es keine Begriffe für das Beobachtete gibt. Grenzen verschwimmen im Kohlenpott. Wer durch die Städte fährt, weiß meist nicht, in welcher Stadt er sich gerade befindet, die Übergänge sind nicht sichtbar. Besondere Bauten wie der Kölner Dom finden sich hier nicht. Geschichtliches scheint nicht vorhanden. Alles wirkt auf den ersten Blick wie aus nur einem Zeitalter. Man muss die Schlösser, die es im Ruhrgebiet gibt, suchen, sie präsentieren sich nicht. Dabei gibt es in fast jeder Stadt eine Burg oder ein Schloss, in Oberhausen das Schloss Oberhausen mit der Sammlung Ludwig, in Bottrop die Burg Vondern, in Mülheim Schloss Broich und so weiter. Ebenso ist es mit vielen Kirchen, die weit vor dem 20. oder 19. Jahrhundert erbaut wurden: Der Dom in Essen, die Abtei in Werden, Kloster Saarn in Mülheim, um nur einige zu nennen. Ebenso verweisen die Kommende in Dortmund oder Bottrop oder der Beginenhof in Essen auf Zeiten vor dem Bergbau. Diese Bauten gehören zum Ruhrgebiet wie die Fördertürme, sie werden jedoch übersehen, weil oft allein die Perspektive Kohle- und Montanindustrie eingenommen wird, dann wirkt alles grau und dreckig.
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