"Jung ist besser als reich"
Die Idolisierung von „Celebrities“, also berühmten Stars und Sternchen, fesselt unsere Aufmerksamkeit. Der Impuls, jemanden zu idolisieren, ziehe sich durch die Menschheitsgeschichte und sei auch im säkularen Zeitalter ungebrochen. Das Laszive, das Erotische, das Verführerische zieht die Menschen nicht erst seit Nofretete oder Marylin Monroe in ihren Bann. Wu behauptet, berühmte Individuen seien wie Gottheiten und glorifizierte Subjekte der Anbetung. Man müsse heute nicht deren Fan sein, um berühmte Schauspieler*innen wie Matt Damon, Angelina Jolie oder Leonardo DiCaprio zu identifizieren. Sie seien so bekannt wie die Namen von Städten, die man besucht hat. Auf das Cover des People Magazine kämen nur Gesichter von Persönlichkeiten, die 80 Prozent der Amerikaner kennen, schreibt Wu. Bei der Auswahl in den Chefredaktionen gehe es mit darwinistischer Brutalität zu: „Jung ist besser als reich. Schön ist besser als hässlich. Reich ist besser als arm. TV ist besser als Musik. Musik ist besser als Filme. Filme sind besser als Sport. Und alles ist besser als Politik“.
Das Medium ist die Botschaft
In erzählerischer Dichte, fast anekdotenhaft erzählt Wu, wie die ersten Poster in Paris im 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zogen und wie die Werbeindustrie Hand in Hand ging mit den technologischen Entwicklungen von Radio, Fernsehen und Internet. 1960 beschrieb Marshall McLuhan in „Understanding Media“ die Medien als „technologische Erweiterungen des Menschen“. Wie der Hammer oder das Rad hätten Computer, Fernsehen, Internet unsere Möglichkeiten des Mensch-Seins erweitert.
„The medium is the message“, McLuhans Slogan, stand für „einen Perspektivwechsel in der Wahrnehmung der Medien“, wie Johanna Haberer in ihrer Digitalen Theologie formuliert. Nicht mehr der Inhalt der Botschaft stand im Vordergrund, sondern seine technologische Umsetzung. McLuhan erkannte, dass das „Wie“ der Kommunikation bereits der eigentlichen Kommunikation vorausgeht und den Inhalt von Kommunikation mitunter stärker prägt als der Inhalt an sich.
Alles für mehr Views und Like
Im Jahr 2004 gründete Mark Zuckerberg Facebook. Er formulierte als Ziel „Menschen verstehen und Psychologie und Computer Science zusammenbringen.“ Dabei erkannte er das Netzwerk-Phänomen: Ein System der Verbindungen wächst in seinem Wert mit der Anzahl seiner Nutzer. Im Jahr 2012 kaufte Facebook Instagram für eine Milliarde US-Dollar auf. Bei Instagram verschwimmt die Grenze zwischen den Zuseher*innen und den Zu-Sehenden, zwischen Käufer und Verkäufer, schreibt Wu. Die Aufmerksamkeitsindustrie wurde zu einer „chaotischen gegenseitigen Bewunderungsgesellschaft lauter unternehmerischer Narzissten“:
„Ich hatte ein Traumleben. Eine halbe Million Menschen interessierte sich für mich auf Instagram“, zitiert Wu die junge Australierin Essena O’Neill. „Ich hatte über 100.000 Views auf meinen Videos bei Youtube“. 2015 gab sie ihren Instagram-Kanal auf. Pure Verzweiflung: „Alles, was ich tat, war bearbeitet und gekünstelt, um mehr Views zu bekommen. Alles, was ich tat, waren für mehr Views, Likes und Followers. Social Media, besonders so wie ich sie nutzte, sind nicht real. Es ist ein System der sozialen Anerkennung, … des Erfolgs bei den Followern. Es ist perfekt orchestriertes, selbst-absorbiertes Urteilen… Ich traf Menschen, die online weitaus erfolgreicher waren als ich, und sie waren nur missgelaunt, einsam, verängstigt und verloren. Wir sind es alle.“
Die eigene Aufmerksamkeit zurückfordern
Vor allem die digitalen Aufmerksamkeitshändler haben eine immer größere Bedeutung dafür, welchen Kurs wir im Leben einschlagen und welche Zukunft die Menschheit hat, denn sie wirtschaften mit unserer Aufmerksamkeit und mit unseren persönlichsten Erfahrungen. Social Media wie Instagram analysieren unsere Bildschirm-Aktivität immer genauer und erhalten dadurch immer mehr Zugriff auf unsere intimsten Gefühle und Wünsche. Im Schlusskapitel schreibt Wu: „Wenn wir eine Zukunft anstreben, die sowohl eine Versklavung durch Propaganda vermeidet als auch der Konsumenten- und Celebrity-Kultur eine Narkose verpasst, dann müssen wir zuallererst anerkennen, wie kostbar unsere Aufmerksamkeit ist“. Facebook, Instagram und Google sind ohne Gebühren nutzbar. Die Währung ist unsere Aufmerksamkeit. Die sollten wir aber nicht billig und unbedacht vergeuden, meint Wu, sondern sollten individuell wie auch kollektiv dafür sorgen, dass unsere Aufmerksamkeit unsere eigene bleibt, indem wir das Eigentum unserer Lebenserfahrungen zurückfordern.
Wus Plädoyer ist hochaktuell. Es geht ihm letztlich um mentale Gesundheit. Zeitkritisch legt er den Finger in die Wunde, indem er die Geschäftsmodelle der Aufmerksamkeitshändler in Vergangenheit und Gegenwart offenlegt und diskutiert. Ich empfehle die Lektüre von Wus Buch allen Influencer*innen, jenen, die es werden möchten, und jenen, die die Algorithmizität der sozialen Medien reflektieren möchten.
Befreiung, nicht mediale Versklavung
Als Theologe finde ich Wus quasireligiöse Anspielungen interessant. Religion, meint Wu, sei der erste große „Ernteeinfahrer“ der menschlichen Aufmerksamkeit. Das halte ich für diskussionswürdig. Der Apostel Paulus war zunächst umgeben von Vielgötterei und Götzendienst, bevor er auf dem Areopag zu predigen begann. Ging es ihm vor allem um Aufmerksamkeit? Wollte er sich selbst darstellen? Als Theologe würde ich sagen: Seine Mission war keine versklavende, sondern er wollte befreien. Er hat sich dem bunten Gewimmel Athens gestellt, weil er gesandt war, den Menschen die Botschaft von der rettenden Liebe Gottes zu verkünden. Die Worte des Johannes „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32), die auch auf dem Grabstein von McLuhan zu finden sind, sind für mich, der wie Milliarden von anderen Menschen die Vor- und Nachteile des digitalen Panoptikums tagtäglich erfährt, für aktuell und relevant.
Wu, Tim: The Attention Merchants – The Epic Scramble to get inside our heads, erschienen bei Penguin Random House, 2016, 416 Seiten (Eine deutsche Übersetzung ist bisher nicht erhältlich).
Zum Weiterlesen:
Haberer, Johanna: Digitale Theologie. Gott und die Medienrevolution der Gegenwart. München : Kösel-Verlag, 2015.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!