In den Kirchen herrscht eine senile Frömmigkeitsflucht. Gottesdienste werden fast ausschließlich von älteren Gläubigen besucht. In der Presse wird von den Schließungen einiger Kirchen berichtet, mal sagt der eine Kardinal aus Köln etwas, dann wieder der andere Kardinal aus München, ansonsten bleibt es still. Ein Diskurs, wie man ihn aus den Zeiten der Kämpfer wie Hans Küng, Eugen Drewermann oder auch Basilius Streithofen kennt, ist nirgends zu finden. Es ist schlichtweg langweilig, was Theologen, Kleriker und engagierte Laien der Öffentlichkeit bieten. Ein theologisches Buch findet sich nicht auf den Bestsellerlisten. Und es scheint vonseiten der Verlage auch kein Interesse daran zu bestehen. Auch potenzielle Leser, so ließe sich schließen, wollen nicht verunsichert werden. Die einzig Aufrechten sind die Atheisten, sie kämpfen noch gegen Positionen, die längst Vergangenheit sind, sind also ebenso langweilig, auch wenn ihr Engagement achtenswert ist.
Es geht uns doch gut
Die Bürger des 21. Jahrhunderts in Westeuropa sind zufrieden, ihnen geht es gut. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mühsam aufwärts, dann muckten die 68ziger auf, doch die Sache der Revolution war schnell überwunden. Von der sexuellen Revolution hatten alle profitiert, es ging nicht mehr so prüde daher. Die Zwänge wurden gelockert und die Parole „wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ provoziert niemanden mehr. Waren Charles Bukowski, Anais Nin oder Emmanuelle Arsan Schocker und stand „Opus pistorum“ von Henry Miller sogar auf dem Index und konnte nur unter der Ladentheke verkauft werden, so sind die Bücher von Charlotte Roche keine Nischenlektüre. Es gilt als fortschrittlich und liberal, wenn solche Bücher kein großes Aufsehen erregen. Vielleicht ist der Erfolg solcher Bücher symptomatisch für die Einstellung zu Sexualität und Erotik: kurzes Vorspiel, schnell ein Höhepunkt und weg. Sexuelle Befreiung ist kein Motto im 21. Jahrhundert, es ist alles erlaubt, vieles ist möglich und fast alles zugänglich. In den Kirchen ist es ähnlich. Die Jahre nach dem Zweiten Vatikanum waren aufregend und kämpferisch. Der Aufbruch war da und jetzt fehlt die Richtung. Scheingefechte werden geführt und vor allem kümmert man sich um das Schließen von Kirchengebäuden und die Frage, wie es ohne Priester weiter gehen soll. Aber eigentlich geht es allen gut, denn man vermisst nicht wirklich etwas, allenfalls muss man seine Gewohnheiten ein wenig ändern. Theologen, die früher fürchten mussten, dass sie von Rom aus für ketzerische Bemerkungen abgestraft werden, schreiben Artikel um Artikel, damit sie die Wichtigkeit ihrer Lehrstühle unterstreichen und diese behalten können, obwohl die Zahl der Theologiestudenten rapide gegen Null tendiert. Ein mutiger, engagierter und pointierter Diskurs wird nicht geführt, man verwaltet die theologische Wissenschaft oder passt sich dem Mainstream an. Es werden Konzepte für die Belebung der Kirchen entwickelt und das „Kehrt um!“ wird in ein tolles Event verwandelt. Es geht uns doch gut, aber es ist totlangweilig.
Wie Sex und Religion zusammenhängen
Religion, wenn sie in ihrer Radikalität ernstgenommen wird, verlangt nach Bildern und Vergleichen, die einem tiefen und a-rationalen Erleben entstammt. Solche Erfahrungen macht der Mensch in seiner Sexualität. Schon im Hohelied der Liebe findet sich hierfür ein literarisches Beispiel. Mystikerinnen haben sich als Braut Christi verstanden und dies in einer sexuellen oder erotischen Sprache beschrieben. Ist eine Gesellschaft körperfeindlich und herrscht eine strenge Sexualmoral, dann sucht sich das Triebhafte einen Weg durch ein Aufbegehren. Eine solch revolutionäre Stimmung überträgt sich auf die gesamte Gesellschaft, somit auch auf religiöse Gruppen. Die lösen das gehemmte sexuelle Aufbegehren nicht durch eine sexuelle Befreiung, obwohl es das auch gibt, sondern eher dadurch, dass ein Widerstand gegen die Machthaber oder die Institution generell entsteht. Verändert sich die gesellschaftliche Stimmung, hat dies auch Einfluss auf diesen Widerstand. Umgekehrt dürfte auch gelten, dass Institutionen, die als Moralinstanzen gelten, die moralischen Grenzen herabsetzen oder verstärken können. Nähern sich Moralinstanzen den Normen der Gesamtgesellschaft an oder schwindet deren Bedeutung, verändert sich die Dynamik von Rebellion gegen herrschende Normen und gelebter Sexualität. Weniger strenge Moralvorschriften lassen die Libido schwächer werden, weil sexuelle Aktivität der Stimulation bedarf und eine Stimulation ist das Verbotene. Sexualität wird harmlos, eben Blümchensex. Schaffen es die Moralinstanzen nicht, andere bzw. geeignetere Normen zu entwickeln, gibt es keinen Stimulus, das Sexualleben zu verändern. Die Moralinstanzen selber verlieren ihre Widerstandskraft gegen das Weltliche, Abgrenzungsbemühungen verringern sich, das Bedürfnis nach „religiöser Intimität“ lässt nach und damit auch die sexuell-erotische Aufladung der Hinwendung zum Heiligen. Die Religion wird genauso wie das Sexualleben innerhalb der Gesamtgesellschaft fade. Religion könnte dann wieder spannend werden, wenn sie von den alten moralischen Vorstellungen abkehrt, eine spürbare Intimität entwickelt und sich dadurch zu einem Gegenpol der Gesellschaft etabliert. In dieser Intimität ist es möglich, das Handeln wieder sexuell aufzuladen und eine hohe Dichte des Erfahrens zu erzeugen. Die Gesellschaft profitiert in Gegenreaktion davon, indem das Handeln stärker auf ein Ziel bei Zustimmung oder Gegenziel bei Ablehnung ausgerichtet ist.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!