Palazzo della Ragione, Padua, Foto: hinsehen.net E.B.

Architektur - entspanntes Atmen

Architektur und den Bedinungen des Kapitalismus drängt uns in die Kurzatmigkeit. Thomas Holtbern zeigt, wie die "effektive" Bauweise unser Lebensgefühl beeinflusst. Seine Analyse geht von dem Buchtitel "Die Atemnot des Kapitalismus" aus.

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare, die für eine politische Berufung der Philosophie eintritt, hat im Zusammenhang mit Covid-19 ein Buch mit dem Untertitel „Die Atemnot des Kapitalismus“ vorgelegt. Dieses Bild oder diese Metapher ist hervorragend geeignet, leiblich zu erkunden, was Architektur mit mir als Mensch macht. Und das Ergebnis dieser Selbsterfahrung wird sein: der Kapitalismus führt zu Kurzatmigkeit, Hyperventilation, zur Atemnot und schließlich zum Erstickungstod. Natürlich sind die Dinge komplex und ein Sachverhalt nie so schlüssig, wie man es sich wünscht, doch kann Philosophie nicht nur im Sinne einer Anreihung von tollen Ideen und logischen Schlüssen verstanden werden. Philosophie darf oder muss als eine Angelegenheit von Anfällen verstanden werden, „Ich trotze, also bin ich“ wie es Eduard Kaeser formuliert. Die alltagspraktischen Erfahrungen können Philosophen nicht unbeeindruckt lassen. Und eine radikale Kapitalismuskritik zeichnet eine gute Philosophie aus, denn der Kapitalismus hinterlässt eine große Leere und hat so etwas wie Gemeinschaft abgeschafft, in der sich der Philosoph vielleicht als akademischer Lehrer als sinnvoll in seiner Tätigkeit erleben kann, jedoch muss er als Mensch einen Anfall bekommen und kann sich nicht hinter dem Akademischen verstecken.

Profit bestimmt die Gestaltung

Was macht der Kapitalismus mit unseren Häusern, Wohnungen und Städten? Die Antwort ist relativ eindeutig. Der Kapitalismus hat den Profit zum Ziel. Es muss höher, besser, luxuriöser und zur Not auch ökologischer sein. Es zählt das Mehr. Ein solches Mehr blockiert jedoch Fantasie und Kreativität. Mit dem eingesetzten Kapital soll möglichst viel Ertrag erwirtschaftet werden. Die Funktion Wohnen muss erfüllt werden, gewisse Freiräume dürfen für kleine Spielereien ausgenutzt werden. Es muss alles in gewissen Grenzen bleiben. Und wie diese Grenzen ein wenig ausgeschmückt werden, das halten viele für Kreativität. Und mit Immobilien kann man viel Geld verdienen, jedoch nur wenn die Kreativität ohne eines ihres wichtigsten Elemente Anwendung findet, nämlich: Verschwendung. Ein kreativer Architekt könnte eine solche Verschwendung nicht begründen, er muss sich verbiegen und eine kreative Idee als funktional wichtig oder als besonders modern verkaufen, was dann wiederum als Marketinggag den Verkaufs- und Vermietungspreis nach oben schrauben lässt.

Die Diktatur der kapitalistischen Architektur

Friedensreich Hundertwasser hat von der Diktatur der geraden Linie gesprochen und den Rationalismus in der Architektur angegriffen. Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch, so heißt es in seinem Manifest. Es gibt in der Natur keine gerade Linie, es gibt keine Gleichförmigkeit, die so exakt ist, wie große Mietskasernen geplant und gebaut werden. Jede Verschwendung wird wegkalkuliert, weil sie Mehrkosten verursacht. Kaufe ich als Bauunternehmer 1000 Fenster, die alle die gleichen Maße haben, kann ich beim Einkauf andere Preise erreichen als wenn ich kreativ eine Häuserreihe plane, die der Unterschiedlichkeit ihrer Bewohner entgegenkommen würde. Diesem kapitalistischen Prinzip ist jeder Architekt unterworfen. Manchmal mag er Glück haben und er darf für einen verrückten Privatmann/-frau mal etwas Außergewöhnliches planen. Das dürften jedoch Ringeltauben sein, denn die meisten Bauherren/-frauen können sich oft nur das Normale leisten, weil der Erwerb des Grundstücks schon Unsummen verschluckt hat. Verschwendung, im Sinne einer kreativen Abweichung, wird die Bank, die das Geld als Hypothek zur Verfügung stellt, sofort reglementieren. Denn für die Bank ist der mögliche Wiederverkaufswert entscheidend und der orientiert sich ganz und gar nicht an solchen kreativen Auswüchsen. Die könnten sogar hinderlich sein, weil nur der Hausherr diese Extras schön findet und ein potenzieller Käufer gerade deswegen vom Kauf Abstand nimmt. Die Banken bestimmen, wie gebaut werden darf oder ob es für den Kauf eines bestimmten Hauses ein Darlehen gibt. Das hat dazu geführt, dass meist Bauträger ganze Siedlungen bauen, bei denen der Käufer bei der Auswahl der Fliesen im Bad vielleicht noch eine Option abgeben darf, ansonsten ist alles vorgefertigt und die Bank macht keinen Ärger. Die Individualität der Häuser, wie sie in Villenvierteln in Potsdam oder anderswo bewundert werden kann, fällt der Rationalität und genehmigten Finanzierung zum Opfer. Die Hausbesitzer, wenn sie nicht zu denen gehören, die sich um Geld keine Sorgen machen müssen, geraten in Atemnot. Der Traum vom eigenen Haus führt dazu, dass sie Überstunden machen, um die Hypothek bedienen zu können, in der Peripherie ein Haus gekauft haben und nun ständig auf dem Weg von und zu ihrer Arbeitsstelle im Stau oder überfüllten Nahverkehrsmitteln in Stress geraten. Und dann kommen noch die Nebenkosten, an die man beim Kauf gar nicht gedacht hat und Reparaturen lassen sich auch nicht vermeiden. Wenn dann der Hausbesitzer auf sein Heim schaut, muss er feststellen, dass sein Haus nichts Besonderes aufweist, dass es dieses Haus so oder ähnlich massenhaft gibt. Der Gang durch die Siedlung macht bei aufrechter Betrachtung dann auch noch deutlich, wie langweilig diese ganze Bebauung ist.

Das Mehr ist kapitalistisch, das Zuviel menschlich

Der Hausbauer oder Hauskäufer muss für jedes Mehr an Wünschen oder Ideen, mit denen er seine Individualität ausdrücken könnte, ordentlich Geld investieren. Das bringt ihn in Atemnot und er verzichtet auf seine Idee. So wie die Pläne für Einfamilien- oder Mehrfamilienhäuser aus einer Schublade zu stammen scheinen, ist es mit größeren Bauten ebenso. Hier sind es oft auch Beamte in den Bauämtern, die eine Diktatur der Bauvorschriften ausüben. Bauvorhaben werden verzögert, weil irgendeine Bestimmung nicht erfüllt ist, der Denkmalschutz beachtet werden muss, die Kosten für öffentliche Projekte verschleiert werden müssen, da sonst die Bevölkerung auf die Barrikaden geht und damit die Kosten steigen. Jedes Zuviel muss ausgeschlossen werden, Mehrkosten können erklärt werden, da sind es gestiegene Preise für Eisen auf dem Weltmarkt oder Kosten, die man vorher gar nicht hat bedenken können. Eine solche Architektur und Städteplanung zeugt immer von der Kurzatmigkeit der Geldgeber, der Atemnot der Politiker, wenn sie den Wählern erklären müssen, warum es mit der Erstellung länger dauert und die Kosten nicht nur geringfügig von der ursprünglich veranschlagten Summe abweichen. Der Bürger, die Bürgerin geht durch seine Stadt, und die Häuser als auch Bauwerke erzählen diese Geschichte des Mehr. Und es ist klar, dass es ums Geld und die Bezahlbarkeit geht. Eigentlich müsste es an dieser Stelle bei dem Philosophen, der sich diese Gemengelage anschaut, zu einem heftigen Anfall kommen. Die Wut müsste ihn unfähig machen, einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwann hat er mal Karl Marx gelesen, er kennt seine Analysen, vielleicht kennt der Philosoph auch das Buch von Byung-Chul Han „Palliativgesellschaft. Schmerz heute“ und seine Wut wird noch größer, weil er vor sich selbst Angst bekommt. Man wird ihm erklären, dass es halt so sei, man ja anders möchte, doch… Der Philosoph verliert seine Gabe des Formulierens: „Nicht Erzählung, sondern Zählung bestimmt unser Leben. Narration ist das Vermögen des Geistes, die Kontingenz des Körpers zu überwinden.“ (Han) Der Philosoph befürchtet, dass man ihn mundtot machen wird, man wird ihn palliativ versorgen. Und der Philosoph atmet immer schneller, bis er hyperventiliert, sein Bewusstsein verliert. Als er wieder aufwacht, schaut er in das Gesicht eines Menschen, der ihm eine Plastiktüte vor den Mund gehalten hat. Er hat seine Ausatemluft eingeatmet, der Sauerstoffgehalt wurde weniger und jetzt atmet er wieder normal. Die Person hat das kapitalistische Prinzip außer Kraft gesetzt, nicht mehr Sauerstoff, sondern weniger hat ihn aus diesem Zustand herausgeholt. Und diese Person hat ihre Zeit verschwendet, eigentlich wollte sie auf ein Bier mit einem Freund und sah dann diesen Philosophen mit seinem Anfall. Diese Aktion passt nicht in kapitalistische Strukturen und Dynamiken. Es ist ähnlich wie Eltern, die ihrem Kind nicht mehr Liebe geben, weil es in einem Erziehungsratgeber so steht. Sie geben ihrem Kind zu viel Liebe, denn später stellen sie fest, dass sie sich dabei vergessen haben. Und trotzdem bereuen die meisten Eltern wohl kaum, dass sie zu viel gegeben haben. Vielleicht erhoffen sie sich, dass sie noch viel Zeit mit ihren Kindern verbringen können und sie hierin so etwas wie Dankbarkeit erfahren. Wohltuende Architektur strahlt eine solche Verschwendung aus. Sakralbauten zeugen oft von einer solchen Verschwendung. Man mag gewisse Auswüchse kritisieren, doch sind sie auch Wehrburgen gegen den kapitalistischen Funktionalisierungsmechanismus und machen diese Auswüchse dadurch wett. Der Kapitalismus erklärt Religion im Gegensatz zu Kommunisten, Atheisten usw. nicht zum Feind, der Kapitalismus rationalisiert diese Verschwendung Religion einfach weg und keinem fällt es auf, weil die Welt ansonsten auch so rational und funktional ist. Von daher ist der Kampf gegen die Diktatur der geraden Linie auch im Sinne der anthropologischen Wende in der Theologie zu verstehen. In jedem Haus, jedem Gebäude kann das Göttlich und das Moralische sichtbar werden, wenn bei ihnen Verschwendung erlaubt und erfahrbar wird.

 

Literatur:

Donatella Di Cesare (2020). Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus. Konstanz: University Press.

Donatella Di Cesare (2020). Von der politischen Berufung der Philosophie. Berlin: Matthes & Seitz.

Byung-Chul Han (2020). Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin: Matthes & Seitz.

Eduard Kaeser (2020). Ich trotze, also bin ich. Philosophische Alltagsanfälle. Basel: Schwabe.


Kategorie: Gesehen

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