Das Böse zerstört am Ende sich selbst Foto: hinsehen.net E.B.

Das Böse im Antisemitismus

An der Verfolgung der Juden zeigt sich das Böse in seiner tödlichen Absicht. Wenn man die Pogrome und den Holocaust vom Bösen her versteht, dann muss es Gründe geben, warum die Juden so oft das Ziel tödlicher Vernichtung sind. René Girard hat Erklärungen gefunden.

Dynamik des Bösen deshalb, weil wir uns klarwerden müssen, ob es eine bestehende Macht ist, die von außen kommt und nach Einfallstoren in der menschlichen Psyche sucht. Sie würde in eine sonst intakte Menschenwelt eindringen. Oder entspringt das Böse einer Dynamik, die sich wie ein Taifun aus dem menschlichen Zusammenleben entwickelt. Dann würde es in jedem Menschen, auch in uns wirksam.

René Girards Analysen haben ihn zu dem Ergebnis geführt, dass das Böse nicht statisch da ist, sondern wie ein Hurrikan entsteht. Dazu hat er zwei Kräfte identifiziert: die Nachahmung verbunden mit Rivalität sowie die Auswahl eines Sündenbocks.

Rivalität: Begehren, was der andere hat

René Girard hat als Literaturwissenschaftler begonnen. Er fand bei Dostojewski die Entstehung und Dynamik von Rivalität beschrieben. Ein Mann, der nicht wusste, wen er heiraten sollte, ist eine literarische Gestalt des russischen Autors. Als ein Bekannter dieser fiktiven Person eine Frau fand, begehrte er diese auch. Girard erklärt, warum wir lieber das begehren, was der andere hat oder auch haben will. Da der Mensch bauen muss, braucht er Ideen. Er muss dann noch prüfen, ob eine bestimmte Idee oder Wahl ihm nützt, ihn fördert. Diese Überprüfung kann er sicherer machen, wenn er auf die Ideen anderer schaut. Wenn andere dasselbe wollen, kann man nicht ganz falsch liegen. Ob das ein Hinweis über die Entstehung des Antisemitismus gibt, wäre noch zu prüfen. Über das Böse ist jedoch eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Dieses gibt es nicht als eine vorhandene Macht, sondern es entwickelt sich. Das zeigt eine Beobachtung bei Kindern: Wenn man in jede Ecke eines Zimmers viermal das gleiche Spielzeug legt und beobachtet, wie Kinder sich verhalten, dann werden sie meistens nicht in eine Ecke gehen, in der das Spielzeug noch frei ist, sondern das "auch haben wollen", was ein Kamerad für sich gewählt hat.

Einen Sündenbock finden

Die aus dem Zusammenspiel sich entwickelnde Rivalität verschärft sich, wenn Ärger, Enttäuschung, Zurücksetzung erlebt wurden. Denn wenn man den Unmut, die Frustration, die Unzufriedenheit auf eine Person lenken kann, müsste man nicht alle für schuldig an der Situation erklären und auch nicht die Gründe, das Versagen bei sich suchen. Wenn diese Person aus der Gruppe, dem Team ausgestoßen wird, stellt sich tatsächlich ein Gefühl der Erleichterung ein. Die Gruppe, das Team sind erst einmal von den schlechten Gefühlen befreit. Der Ausgestoßene scheint sie mitgenommen zu haben. Man hatte scheinbar recht, denn der Ausgestoßene scheint tatsächlich die Ursache für die schlechte Stimmung gewesen zu sein. Wir nennen das heute Mobbing. Wenn ich einen Sündenbock gefunden habe, muss ich mich nicht um meine internen Probleme, Konflikte und Auseinandersetzungen kümmern muss. Der Außenfeind absorbiert die negativen Energien, indem er den Blick nach außen lenkt.
Das Modell „Sündenbock“ ist aus demselben Grund eingeführt. Doch wird kein Mensch, sondern ein Ziegenbock in die Wüste getrieben. Der Hohepriester hat auf diesen Bock die Sünden des Volkes gelegt. Das wird im 16. Kapitel des Levitikus-Buches vorgeschrieben, davon leitet sich der Begriff „Sündenbock“ her. Der Ritus wird am Versöhnungstag Jom Kippur vollzogen.

Der Sündenbock wird ausgewählt

Girard leitet sein Buch über den Sündenbock „Jesus“ mit einer griechischen Geschichte ein. Diese schildert, wie ein Heiler von einer Stadt zur Lösung einer Krise engagiert wird. Er sucht ein Mobbing-Opfer und wählt dafür einen armen Außenseiter aus. Dieser wird vertrieben und die Stadt ist geheilt. Erklärt nun dieser Sündenbockritus, warum die Juden so oft Opfer des Bösen geworden sind? Weil sie anders sind, konnten sie als Sündenböcke ausgewählt werden. Sie lebten abgegrenzt in Ghettos, waren also eine leicht identifizierbare Gruppe. Weil es die Ghettos nicht mehr gab, mussten sie bei den Nationalsozialisten den "Judenstern" tragen. Als die Abstammungslehre entdeckt wurde, schien es, die Unterschiedenheit der Juden auch biologisch festmachen zu können. Für die vielen Generationen vorher war das Unterscheidende die Religion mit anderen Riten und Festen. Die Juden zogen damit nicht nur die Wut Luthers auf sich, weil sie sich auch zur reformierten Kirche nicht bekehrten. Sie sind auf jeden Fall deshalb leicht auszuwählen, weil sie keinen Schutz haben und auch selbst nicht Waffen tragen durften, um sich verteidigen zu können. Das erklärt auch, warum die Mehrheit sich nicht angegriffen fühlt, wenn die Juden verfolgt und ausgerottet werden. Dafür spricht auch, dass sich Pogrome eher in unruhigen, kritischen Zeiten entwickelt haben. Zur Geschichte sind noch zwei Vorgänge in das Gesamtbild einzutragen:

1.       Von einem Pogrom, also der Vernichtung der Juden, weil sie Juden sind, berichtet das Buch Esther. Ein hoher Beamter überzeugt den König Ataxerxes mit folgendem Argument, die Juden ausrotten zu lassen:
„Es gibt ein Volk, das über alle Provinzen deines Reiches verstreut lebt, aber sich von den anderen Völkern absondert. Seine Gesetze sind von denen aller anderen Völker verschieden; auch die Gesetze des Königs befolgen sie nicht. Es ist nicht richtig, dass der König ihnen das durchgehen lässt. Wenn der König einverstanden ist, soll ein schriftlicher Erlass herausgegeben werden, sie auszurotten. Dann kann ich den Schatzmeistern zehntausend Talente Silber übergeben und in die königlichen Schatzkammern bringen lassen.

2.      Zur Vorgeschichte des Staates Israel gehört eine Intervention des muslimischen Großmuftis von Jerusalem, Amin Al-Husseini. Er war während der Wannseekonferenz in Berlin und konnte Hitler überzeugen, die Juden nicht nach Palästina auszuweisen. Die jüdischen Siedler hatten damals noch keinen Staat. Aus Sicht der Palästinenser musste man verhindern, dass noch mehr Juden nach Palästina kommen.

Die obigen Analysen erklären vielleicht, warum die Juden als Sündenböcke ausgewählt wurden. Warum sie aber ausgerottet wurden, ist damit nicht erklärt. Unter dem spanischen König Phillip II. und unter anderen gab es eine Verfolgung der Juden, jedoch keine Ausrottung. Wenn sie Christen wurden, konnten sie sogar bleiben.

Die Analysen zeigen, dass es keine Strategie gibt, mit Argumenten den immer wieder aufflammenden Antisemitismus stillzulegen. In kritischen Phasen suchen Viele einen Sündenbock. Ehe man diesen unter anderen Gruppen sucht, scheint es wohl einfacher, die Juden wieder zu Feinden zu erklären. Was aber möglich ist, die Gleichgültigkeit der übrigen Bevölkerung aufzulösen, wenn Juden beschuldigt und ermordet werden.

René Girard hat seine Erkenntnisse in dem Buch „Das Heilige und die Gewalt“ dargestellt. Wie Jesus zum Sündenbock wurde findet sich in diesem Buch „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums“. Den Weg aus der Gewalt findet die Religion, indem sie rituell den Tod des Sündenbocks begeht und deshalb nicht mehr weitere Sündenböcke ausstoßen muss.


Kategorie: Analysiert

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang