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Das Fest der Kinder

In einer geregelten Welt nimmt die Bevormundung zu. Kinder haben es schwerer, erwachsen zu werden. an Weihnachten, dem Fest der Kinder, wird das wieder deutlich.

Die Erfahrungen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts scheinen dadurch gekennzeichnet zu sein, dass die meisten Lebensbereiche recht weitreichend geregelt sind und auch für Beschreibungen oder Benennungen von Sachverhalten enggefasste Sprachregelungen bestehen. Die Welt der Kinder unterscheidet sich durch diese Regelungen und damit Bevormundungen nur noch wenig von der Welt der Erwachsenen. Die Möglichkeit, bewusst Schuld auf sich nehmen, was als ein wesentlicher Schritt des Erwachsenwerdens verstanden werden kann, wird durch Reglementierungen, Verhaltenshinweise, der Implementierung von korrekter Sprache, aber auch Präventionsmaßnahmen oder der Definition bestimmter Verhaltensweisen als Krankheit, immer mehr eingegrenzt. Von Kindern versuchen die Erziehungsberechtigten, Unheil fernzuhalten. Man möchte nicht, dass sie etwas sehen oder erleben, was sie noch nicht wie die Erwachsenen verarbeiten könnten. Hat man in der schwarzen Pädagogik die körperliche Züchtigung als probates Mittel angesehen, so werden heute Konzepte entwickelt, die die Individualität der Kleinen berücksichtigen und von Toleranz geprägt sind. Genaue Anweisungen sollen den Erziehern, Lehrern, Professoren und Eltern helfen, möglichst gleiche Chancen für alle zu schaffen und niemanden aufgrund seiner mitgegebenen bzw. fehlenden Gaben zu benachteiligen. Dieses Ansinnen wirkt oberflächlich betrachtet moralisch integer und links progressiv. Endlich scheinen die Reformgedanken der Fortschrittlichen Wirklichkeit zu werden. Viele kritische Beobachter erkennen mittlerweile jedoch gewisse Schönheitsfehler. Die Bologna-Reform hat die Hochschulen zu Lehranstalten gemacht, die Bulimie-Lernen provozieren. Studentenrevolten passen nicht mehr zum Lebensgefühl derjenigen, die genau wissen, was zu lernen ist und dass man mit einem Bachelorabschluss sich besser nicht bewirbt. Der Master ist quasi ein Muss. Auf der anderen Seite sinkt die Zahl der Habilitanten, denn eine Zukunft im universitären Bereich ist immer weniger attraktiv. Der Publikationsdruck und die Unzahl an Prüfungen sowie Klausuren lassen kaum noch Zeit, mal über den Tellerrand zu schauen. Und die Annahme, dass Menschen, die studiert haben, ab und an mal zu einem Buch greifen, findet keine Bestätigung. Die Zahl der Buchhandlungen schrumpft und der Blick in viele Studentenbuden lässt erkennen, dass Bücher nicht mehr zum Standard gehören. Die Studierenden lesen für ihre Prüfungen die Powerpointpräsentationen und die Skripten, die ziemlich genau das beinhalten, was für die Prüfung oder Klausur gewusst werden muss.

Wie in der Schule so im Leben

Das Beispiel Schule hat Schule gemacht, so könnte man feststellen. Viele Bereiche des Lebens sind geregelt. Es gibt Kommissionen, die Fernsehsendungen vorbeurteilen. Das Urteil wird dem mündigen Bürger nicht zugetraut, es bedarf einer Gruppe von Sachverständigen, die nach irgendwelchen Kriterien festlegen, dass bestimmte Sequenzen geschnitten werden müssen. Wortrichter legen fest, was gesagt oder geschrieben werden darf. Die korrekte Sprache wird als hohes Ideal dargestellt. Niemand soll durch eine Formulierung diskriminiert werden. Negerkuss dürfen die Schaumküsse nicht mehr genannt werden. Und immer muss die Parität der Geschlechter eingehalten werden. Die Schlangen vor dem Post-, Bahn- oder Bankschalter sind geregelt, der Kunde muss eine Nummer ziehen oder sich geordnet in eine Reihe stellen. Den Menschen wird es abgenommen, das Chaos selber zu ordnen. Beschwerden sollen an die Beschwerdestelle gerichtet werden, um dort nach einem klar geregelten Ablaufplan abgearbeitet zu werden. Viele Bereiche des öffentlichen Lebens sind umfassend durchreguliert. Der Bürger stößt immer wieder auf Hinweise, wie er sich zu verhalten habe. Und wenn Dinge aus dem Ruder geraten, werden eingrenzende Regulierungen gefordert, damit z. B. auf Facebook nicht gemobbt, diskriminiert oder gehasst wird.

Die Verhinderung von Schuld

Zum Erwachsenwerden gehört die Fähigkeit, schuldig zu werden. Ein Kind kann viele Konsequenzen des eigenen Tuns noch nicht einschätzen, hat noch begrenzte kognitive Möglichkeiten, die moralischen Dimensionen einer Handlung zu beurteilen. Vor allem Jugendliche haben die Neigung, Grenzen zu übertreten, Drogen auszuprobieren, beim Alkoholkonsum über das rechte Maß hinaus zu gehen. Damit nichts Schlimmes passiert, werden Präventionsprogramme initiiert. Den Jugendlichen wird suggeriert, dass es völlig okay sei, was sie tun, sie müssten ihre Exzesse nur geregelt angehen. Das Versorgungssystem ist so weit ausgebaut, dass jemand, der auf die schiefe Bahn gekommen ist, Hilfe findet, rehabilitiert oder resozialisiert wird. Wer sich im Beruf verausgabt hat, wird mit der Diagnose Burnout behandelt. Es wird immer schwieriger, einfach nur schuldig zu werden. Verbrechen werden durch Präventionsmaßnahmen im Vorhinein verhindert. Gehässige Diskriminierungen verhindern Sprachregelungen und Stigmatisierungen. Dass diese Maßnahmen Aggressionen und Gewalt an andere Orte verlagern, kann angenommen werden. Unmittelbarer ist jedoch, dass die Möglichkeit, ganz konkret eine Tat schuldig zu begehen, immer mehr eingeschränkt wird. Dafür bieten die Fernsehkanäle eine Unmenge an Krimis, wo gemordet, geraubt oder sonst ein Verbrechen begangen wird. Die Fähigkeit und die Möglichkeiten zur Schuld erfordern eine große Ambiguitätstoleranz, ambivalente Situationen müssen ausgehalten werden und stellen große emotionale Belastungen dar. Belastungen werden den Menschen jedoch nicht mehr zugemutet. Das Leben soll nicht beschwerlich sein, mit der Technik lassen sich viele Tätigkeiten spielend leicht erledigen, für Probleme und Konflikte gibt es Beratungs- und Anlaufstellen. Eigentlich muss niemand mehr schuldig werden. Und der Satz aus der Liturgie der Osternacht „Oh, glückliche Schuld!“ empfinden die meisten Bürger wohl als befremdlich. Die Kehrseite ist allerdings eine Infantilisierung, die naive Sicht, dass eine Handlung lediglich gut geplant und konform mit den Regeln zu sein hat. Steht auf der einen Seite ein solch regelkonformes Verhalten, werden anderseits Projektionsflächen gesucht, wo das Böse gefunden wird und Personen als eindeutig Schuldige ausgemacht werden können. Die Diktatoren dieser Welt bieten sich hierfür in besonderer Weise an.

Das Verschwinden der Erwachsenensprache

„So wird unter dem Anschein von Emanzipation das Gegenteil bewerkstelligt: Sowohl Solidarität als auch Mündigkeit werden verhindert; Bestrebungen nach Gleichheit werden auf unbedeutendere, kleine Problemfelder umgelenkt, und berechtigte Empörung wird durch peinlich genaue Sprachregelungen entweder stumm oder kleinlaut gehalten.“ (Robert Pfaller) Im alltäglichen Verhalten kann diese Diskrepanz deutlich beobachtet werden. Das Erwachsenwerden zeigt sich maßgeblich darin, dass durch das eigene Verhalten und Sprechen eine Distanz aufgebaut wird. Die Distanz dient keineswegs der Abwehr des Anderen, sondern dem Schutz. Die inneren Kämpfe, die schlechten Charakterzüge, die Unausgeglichenheit werden durch eine relativ starre äußere Form eingegrenzt. Der Erwachsene ist bereit, diese Belastung des „Unehrlichen“ zu ertragen. Gleichzeitig ist für jeden erkennbar, dass es um etwas sehr Wichtiges geht, wenn die starre Form verlassen wird. Das Erwachsensein zeigt sich in einer großen Anpassungsleistung an die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft. Und es ist gleichzeitig die Bereitschaft, sich für eine Sache engagiert einzusetzen und die Schuld auf sich zu nehmen, die Konventionen aufzubrechen und damit Verwirrung zu stiften, Unruhe zu erzeugen und möglicherweise andere Menschen durch seine Handlungen und sein Sprechen zu verletzen. Wer zu einer Revolution fahren will und vorher brav das Bahnticket löst, verhält sich kindisch. Für eine Sache einzutreten, verlangt den ganzen Menschen und das Wissen darum, dass ein solches Anliegen kein Kindergeburtstag ist, sondern eine klare und abgewogene Entscheidung, die Sache über Regeln und Gesetze zu stellen und dies nicht, weil sie generell abgelehnt werden. Es wird das Wagnis eingegangen, im Befolgen der Sache Schaden anrichten zu können und Schuld auf sich zu laden. Wird dem Kind nur als das unschuldige kleine Menschenwesen und nicht als Beginn einer dramatischen Geschichte gehuldigt, so verbirgt sich dahinter der Wunsch, seine eigene Geschichte mit aller Tragödie, Dramatik und Schuld nicht annehmen oder beginnen zu wollen.

Weiterführende Literatur:

Robert Pfaller, 2017. Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt am Main: Fischer.

Simon Strauss, 2017. Sieben Nächte: Berlin: Aufbau Verlag


Kategorie: Analysiert hinsehen.net

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