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Der Mensch ist ein Spross der Pflanzen

Wir leben in einem Umfeld aus Metall, Asphalt, Stein, Plastik, Glas. Das fühlt sich kühl, sauber, geglättet an. Dass das nicht unsere Welt ist, zeigt sich im Urlaub. Wir verlassen dann Metall und Beton in Richtung Natur. Da kommen wir her, genährt mit den Kohlenstoffen der Pflanzen, ihren Vitaminen und Mineralien sowie mit dem Sauerstoff zum Atmen, den die Bäume vom Kohlendioxyd abgespalten haben.

Wenn wir in der metallenen, aus Beton gebauten und durch Plastik ausgestatteten Welt unseren Berufen nachgehen, sind wir von dem Boden getrennt, auf dem wir tatsächlich stehen. Was wir im Urlaub spüren, riechen und schmecken, ist tatsächlich unsere Lebensgrundlage. Wir leben nur, weil es Pflanzen gibt und Billionen Lebewesen, die den Pflanzen mit der Humusschicht die Lebensgrundlage bereitstellen. Die Pflanzen haben überhaupt erst den Sauerstoff in die Atmosphäre gebracht und holen ständig aus dem Kohlendioxyd den Kohlenstoff heraus, damit wir Holz und etwas zu Essen haben. Mit den anderen Tieren leben wir von den Pflanzen, die dann aus unserer Atemluft, der verbrannten Kohle, dem Gas und Benzin den Sauerstoff herauslösen und uns neues Holz, Kartoffeln und Kohlrabi bereitstellen. Die Pilze mit den Bakterien recyceln den Bioabfall ohne unser Zutun. In diesen Kreislauf zurückzufinden, ist ökologisch.

Den Autoverkehr drosseln, Elektromotoren einbauen, Wind- und Sonnenenergie sind nur Aktionen, die noch nicht auf dem Boden stehen, der uns hervorgebracht hat. Es fehlt noch die Philosophie, nämlich die umfassende Vorstellung, wie wir als Körperwesen gebaut sind. Wir sind mit unseren Darmbakterien und vielen kleinsten Lebewesen der Pflanzensphäre verbunden. Ohne das Chlorophyll gäbe es keinen Sauerstoff in der Luft, so dass unser Körpersystem einbrechen würde. Diese pflanzliche Basis findet jedoch kaum Platz in unserer Vorstellung von der Welt. Obwohl der Klimakollaps droht, wollen selbst die Grünen mit mehr Technik unser Leben bereichern. Dabei finden wir das Leben viel intensiver im Garten und brauchen uns nicht so anzustrengen, wie wenn wir ein Auto lenken oder die Posts auf dem kleinen Handybildschirm checken. Uns auf die Natur einlassen, würde unser Wohlbefinden mehr bereichern als ein neues Auto. Offensichtlich stimmt die herrschende Philosophie nicht, obwohl die meisten Philosophen sich als Naturalisten bezeichnen.

Die Philosophie liefert ein unzureichendes Bild von der Welt

Wenn die meisten Philosophen sich heute als Naturalisten verstehen, dann wollen sie dem Menschen Orientierung über sich selber aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften geben. Da ist es erstaunlich, wie wenig sie zu der Herausforderung zu sagen haben, vor die der drohende Klimakollaps die Menschen stellt. Es sind Schülerinnen, die den Zeitgenossen dringend auffordern, sich der Herausforderung zu stellen. Die Naturalisten sind deshalb aus der Zeit gefallen, weil sie nur die wissenschaftlichen Grundlagen der Technik, nämlich die Physik als Natur reflektieren. Mit der Physik kann man Mondraketen, Elektromotoren und Computer bauen, aber aus dem Garten keine Kartoffeln oder Rosenkohl ernten. Man bekommt mit diesem auf Technik reduzierten Naturalismus auch keine Rose zum Blühen. Wie wir den Menschen sehen, wenn wir ihn realistisch in die Sphäre Pflanzen einbetten, dafür brauchen wir eine andere Philosophie. Eine Weltanschauung deshalb, weil wir nicht durch Instinkte gelenkt werden. Ehe wir entscheiden können, müssen wir uns ein Bild von der Weltgemacht haben. Wir können nur mit einer zutreffenden Philosophie zukunftsfähige Entscheidungen treffen. Emanuele Coccia hat die ersten Bauteile eines solchen philosophischen Gebäudes in „Die Wurzeln der Welt“ vorgestellt. Er entwickelt eine Philosophie der Pflanzen. Er zeigt uns, wie wir unser Leben von seinen Grundkräften her verstehen. Wir bezeichnen uns als Erdenbewohner, sind aber eingebettet durch ein von Pflanzen gestaltete Welt. Unsere Existenz ist aus den Pflanzen nicht nur erwachsen, sondern wird von ihnen in ständigem Austausch erhalten.

Die Pflanzen erschaffen sich selbst, Tiere leben von Pflanzen

Indem sie aus dem Erdreich und der Luft die Stoffe nehmen, bilden sie ihren Körper. Sie verbinden sich mit der Sonnenenergie, um ihre Gestalt zu bauen. Damit wird die Erde ein von Pflanzen geschaffener Lebensraum. In dieses Verständnis, das wir nicht auf Felsen existieren, sondern in dem Meer von den Pflanzen, führt Coccia ein. Er entwirft eine Ontologie, eine Seinslehre, die uns näher an den Lebensraum heranführt als die bisherige Philosophie. Denn diese hat, wenn sie von Materie spricht, Felsen vor Augen. Unsere Lebenswirklichkeit ist jedoch die von den Pflanzen gebaute. Denn alle Tiere und damit auch der Mensch existieren aus dem Leben der Pflanzen. Unsere Lebendigkeit braucht ebenso das Licht und die Energie der Sonne, erhält diese aber nicht direkt, sondern nur vermittelt durch die Pflanzen. Wir sind, um zu leben, immer in die Pflanzenwelt eingebettet.

Atmung ermöglicht durch Bäume

Die Pflanzen haben die Atmung und damit die Freisetzung der Energie in den Tieren erst ermöglicht, indem sie das Kohlendioxid gespalten, den Kohlenstoff behalten und den Sauerstoff zur Atmung freigegeben haben. Wir können daher nur so viele Kohlenstoff in unserem Körper und außerhalb verfeuern, wie die Pflanzen das durch Verbrennen entstandene Kohlendioxid wieder in Kohlenstoff und Sauerstoff trennen. Das wäre erst klimaneutral, nicht mehr Kohlendioxyd in die Luft zu pusten als die Pflanzen, vor allem die Bäume, wieder abbauen können.
Damit wird die Atmosphäre zum Medium, in dem sich alles Leben vollzieht. Sie verbindet alle Lebewesen miteinander. Leben ist in ständigem Fluss und durch die Atmosphäre mit allem verbunden. Sich ständig austauschen, ist das Grundprinzip. Denn nicht Materie wie bei den Naturalisten, sondern Lebewesen machen die Welt aus. Das gilt auch für das Wurzelwerk, das mit Pilzen und den Wurzeln anderer Pflanzen im Austausch steht und direkt aus der Erde die Stoffe herausziehen kann, um mit dem Kohlenstoff aus der Luft den Körper der Pflanze zu bauen. Wenn wir nicht bis in die Gene mit den Pflanzen verwandt wären, könnten wir sie nicht verdauen und ihre Nährstoffe in unseren Körper einbauen. Nicht nur Heroin und Kokain wirken direkt auf unser Körpersystem, sondern das Vitamin C aus vielen Früchten, Kurkuma löscht unsere Entzündungen, Cachew-Nüsse stellen das Tryptophan für die Synthese von Serotonin zur Verfügung und wehren damit die Depression ab. Wer den Gedankengängen des Autors folgt, fühlt sich in die von Pflanzen geschaffener Welt eingebettet, von ihrer Lebensenergie getragen und mit allem verbunden – als Teil des Lebendigen.

Leben ist Fließen, verbunden mit allem

Wenn man entsprechend der klassischen Ontologie, der Seinslehre, die Pflanzen zuordnet, dann sind es nicht die Festigkeit einer Substanz, die Unverrückbarkeit eines Berges, sondern der Wind, der ständige Austausch, eine Atmosphäre, in der Jedes auf alles andere einwirkt. Auch die geistige Sphäre ist bei ihm nicht von unverrückbaren Prinzipien bestimmt, sondern vom ständigen Fluss und dem Austausch von Ideen, Kreationen, Erfindungen. 
Lebendiges und Materie gehen sind nicht voneinander abgegrenzt, sondern die Pflanzen schaffen aus dem Materiellen lebendige Organismen. Das Buch inspiriert, eine Philosophie zu entwickeln, die vom Lebendigen ausgeht

Links
Ökologie heißt Lebensqualität
Grün reicht für Christen nicht

Emanuele Cocci, Die Wurzeln der Welt, Eine Philosophie der Pflanzen, Hanser, München 2018, 192 S. 1980

 

 


Kategorie: Verstehen

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