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Kein Jenseits mehr nötig

Wir leben sehr viel besser als noch die Generation unserer Urgroßeltern. Viele Krankheiten verlaufen nicht mehr tödlich. Schwere körperliche Arbeit nehmen uns Maschinen ab. Mit dem Internet erreichen wir alle Punkte der Erde. Das Projekt der Moderne ist gelungen. Wir können uns hier wohlfühlen.

Modern klingt deshalb noch immer gut, weil es Verbesserung verspricht. Die Welt so gestalten, dass jeder Mensch zu Essen, ein Dach über dem Kopf und eine gute Ausbildung durchlaufen hat. Nicht mehr die Lebensumstände so lassen, sondern verbessern. Dazu die Wissenschaften, die der Ingenieurskunst, der Landwirtschaft und der Medizin ermöglichen, die Lebensverhältnisse ständig zu verbessern. Das hat die Situation der Religion verändert. Es braucht nicht mehr die Vergewisserung eines zukünftigen Paradieses. Der Mensch kann es selbst hier in dieser Welt realisieren. Aber fing nicht alles in einem paradiesischen Garten an? Diesen Anfang hat es nicht gegeben, deshalb konnten die westlichen Religionen sich dem Zukunftsprojekt „Moderne“ öffnen. Das Paradies, das für den Anfang vermutet wurde, liegt in der Zukunft und der Mensch kann selbst bauen. Da die Natur nicht göttlich ist, kann er sie erforschen, in sie eingreifen, zu seinen Gunsten formen. Dampfmaschinen, von Benzin oder Diesel angetriebene Motoren, Telegrafie und Telefonie, der Bildschirm und die Algorithmen bauen eine Umwelt, die dem Menschen zu Diensten steht.

Kommunismus und Kapitalismus haben das gleiche Ziel

Marx hat es formuliert: Keine Vertröstung auf ein diffuses Jenseits, sondern hier mit Technik und Elektrizität das Paradies bauen. Der Kapitalismus will das Gleiche. Adam Smith veröffentlichte 1776 seine Untersuchungen zum "Wohlstand der Nationen". Keine schwere Arbeit mehr, Wohlstand für alle, Heizung, fließendes Wasser, Bahn, Auto, Flugzeug für jeden. Es ist alles eingetroffen und wird ständig weiter verbessert. China hat in wenigen Jahren dieses System eingeführt und den Lebensstandard des Westens erreicht. Auch der Kommunismus kann demnach Wohlstand für die gesamte Bevölkerung schaffen. 

Die Lebensspanne ausschöpfen

Die Möglichkeiten in den Industrieländern sind so vielfältig geworden, dass die einzelnen sich in immer mehr Berufen verwirklichen können. Erfolg steht jedem offen. An den vielen Plätzen, wo Arbeit anfällt, kann sich jeder bewähren. Arbeit dient nicht mehr nur dem Überleben. Wenn ich an meinem Platz produktiv bin, kann ich die Arbeitsleistung anderer in Anspruch nehmen. Wir arbeiten, jeder und jede an ihrem Platz, damit wir insgesamt Wohlstand hervorbringen. Beruf lohnt sich und wird auch als lohnend empfunden. Es springt sogar so viel heraus, dass wir uns Vieles leisten und die ganze Welt bereisen können. In den ersten Jahren der Rente sind die meisten noch so gesund, dass sie die Welt erkunden können. Die Kreuzfahrtschiffe und Flugzeuge bringen uns hin. Urlaub ist im Alter nicht mehr zur Regeneration notwendig, sondern kann für ein Mehr an Erleben eingesetzt werden. Die Beschränkungen der Coronakrise machen uns bewusst, welche Möglichkeiten wir in den Wochen des Lockdowns nicht mehr wahrnehmen können. Kulturelle Veranstaltungen, Ausgehen und Reisen waren so selbstverständlich. Sie haben unser Leben ausgefüllt. Wir sind sicher, dass wir das auch wieder können, denn die Wissenschaft wird einen Impfstoff bereitstellen, so dass wir zu dem früheren Lebensstil zurückkehren können. Das macht die Religion, insofern sie uns ein zukünftiges Paradies versprach, überflüssig. 

Das jenseitige Paradies verliert seine Sehnsuchtsqualität

Es ist alles menschliche Leistung. Einem Fruchtbarkeitsgott muss nicht mehr geopfert werden. Kein gütiger Gott muss uns eine Alternative zu dem Wohlstand versprechen. Wir schöpfen das Leben hier aus und brauchen keine Fortsetzung mehr. 
Die religiösen Berufe arbeiten weitgehend am Lebensgefühl der Menschen vorbei, wenn sie das Leben nach dem Tode wie früher vorstellen. Das haben beide Kirchen auch weitgehend aufgegeben. Denn brauchen die Menschen am Grab tatsächlich Trost, wenn sie jemand zu Grabe tragen, der die Achtzig überschritten hat. Mit dieser Lebensspanne konnten er oder sie doch ausschöpfen, was im Leben herauszuholen war. Gottesdienstbesuch, Bibellektüre, Gebet haben nicht mehr die frühere Funktion, wenn Menschen sich Wohlstand geschaffen haben und nicht mehr die Dummheit begehen, den erzielten Wohlstand zur Finanzierung von Kriegen zaufzubrauchen.

Wellness, nicht Kampf um den Einzug ins Paradies

Entsprechend dem erreichten Wohlstand ist es nicht mehr notwendig, um etwas zu kämpfen, was hinter dem Tod kommen könnte. Wir können uns in dieser Welt einrichten, uns wohlfühlen. Es braucht keine grundlegende Veränderung. Revolution, wie sie manche Unentwegten immer noch für unumgänglich halten, verliert ihre zwingende Notwendigkeit, wenn ständig kleine Verbesserungen realisiert werden. Die Überhöhung, die das Leben dann noch braucht, finden sich im Kurzurlaub und in einem Wellnesshotel. Dass die Katholische Kirche sich in dieser Wohlstandsgesellschaft eingerichtet hat, zeigt sich nicht nur an der Buchproduktion, die in spiritueller Wohlfühl-Spiritualität ihre Erfolgschancen sieht. Im Synodalen Prozess geht es um Inneneinrichtung. Die Institution und ihre interne Aufgabenverteilung sollen die Zufriedenheit erhöhen. Es wird weniger darüber nachgedacht, was eine Kirche den Menschen anbieten soll, sondern wie das Bestehende besser gestaltet werden kann. Das Anliegen des Papstes, die am Rande Lebenden wahrzunehmen, läuft dem Gemeindekonzept entgegen, in dem sich die älteren Jahrgänge eine ihnen genehme Welt erhalten wollen. Diese wird aber schon von den eigenen Kindern und Enkeln als nicht mehr zeitgemäß erlebt wird. Auch der ausdrückliche Impuls aus Rom, neue Mitglieder zu gewinnen, perlt am deutschen Katholizismus ab. 

Wofür noch Religion

Im Leben auf Gott angewiesen zu sein, weil die von Menschen gemachte Umwelt das Leben nicht sichert, sondern durch Verbrechen und Kriege bedroht, ist in Europa kein starkes Motiv mehr. Auch werden die Kirchen als moralische Instanzen nicht mehr gebraucht, seit die Gesellschaft in eine liberale Phase eintrat. War bis in die sechziger Jahre Religion vom starken Impuls getragen, Disziplin zu garantieren, haben die Geistlichen beider Konfessionen das Strenge abgelegt. Nicht fordernd, sondern unterstützend wollen die Hauptamtlichen sein. Dafür haben die Kirchen jedoch kein Monopol. Die Bereitschaft zu helfen und zu unterstützen braucht keine religiöse, durch Kirchen vermittelte Motivation. Vielleicht erklärt den starken Rückgang der Gottesdienstbesucher und derjenigen, die sich in kirchlichen Gruppen verorten. Es scheint auch nicht möglich, im Rückgriff auf frühere religiöse Gestimmtheiten die Relevanz des Glaubens für eine Wohlfühlgesellschaft aufzuzeigen. Man ist modern und Religion ist etwas aus früheren Epochen.

Die Glaubenden müssen sich zuerst kalr werden

Die Religiösen, die Glaubenden sehen den Menschen nicht als Produkt des Zufalls, der die Evolution zu dieser besonderen Affenart geführt hat. Sie erklären sich das Vernunft ausgezeichnete Lebewesen, das sich selbst befragen kann und nach Sinn sucht in dialogischem Verhältnis zu einer größeren Person, die etwas ins Dasein rufen und es auf seinem Lebensweg begleiten kann. Wie verorten sich die Glaubenden religiös neu? Sie sind in den westlichen Industrieländern ratlos geworden. Das Bisherige hat seine Kraft verloren. Die Antwort wird sich wohl nicht in der Vergangenheit finden lassen, sondern in dem, was sich vage andeutet. Judentum und Christentum kennen aus ihrer Geschichte solche Vorgänge und sind sicher, dass Neues kommen wird. Es sind Entwicklungen zu beobachten, die das Modell einer auf wissenschaftlich-technischer Basis aufgebaute Wohlstandsgesellschafft nicht als den Endzustand der Geschichte stehen lassen, sondern über diese Zivilisation hinaus den Menschen neu situieren, dem Leben neue Inhalte geben, um so neue Antworten auf die Sinnfrageneu zu finden.

·        Eine diffuse Unzufriedenheit wird zu einer Kraft, die bereits die Politik bestimmt.

·        Die auf technische Verfügbarkeit der Natur aufgebaute Zivilisation hat die Beziehung zum Lebendigen verloren. Die Menschen sind nicht mehr Gärtner, sondern haben sich mit der Industrialisierung und zuletzt mit der Digitalisierung noch mehr in einer von Geräten und Maschinen bestimmten Welt eingerichtet.

·        Die Technik selbst bedroht die Lebensgrundlagen.


Wenn diese Entwicklungen signalisieren, dass sich ein neues Modell des Zusammenlebens mit Pflanzen und Tieren entwickelt, dann kann der Platz der Religion in diesem Neuen gefunden werden.

Die Bedingungen des Menschseins, die Condition humaine, wird bereits durch die Künstliche Intelligenz herausgefordert. Es könnte sein, dass viele Abläufe vom Menschen auf die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz übergehen werden. Dann muss neu überlegt werden, wem eine Gesellschaft ihre Steuerung anvertraut. Es wird auch die Sinnerfüllung, die inzwischen auch die Frauen im Beruf suchen, anderswo gesucht werden muss.

 

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Kategorie: Analysiert

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